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Die polare Deutung von Dur – Moll

Untertitel
Briefwechsel zwischen Hans-Georg Burghardt und Heinrich Simbriger bei ConBrio
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Thomas Emmerig (Hg.): Musiktheorie und musikalisches Werk. Eine Diskussion im Briefwechsel zwischen Hans-Georg Burghardt und Heinrich Simbriger (neue wege – nové cesty: Schriftenreihe des Sudetendeutschen Musikinstituts, Band 10), Regensburg, ConBrio, Regensburg 2015, 184 S., Notenbsp., € 19,90, ISBN 978-3-940768-55-1

Mit der höflichen Bitte, „mir auf einige fachliche Fragen Antwort zu geben“, nimmt im April 1955 der Komponist und Musikwissenschaftler Hans-Georg Burghardt brieflichen Kontakt mit seinem Fachgenossen Heinrich Simbriger auf, und hieraus entwickelt sich ein mit wechselnder Intensität bis zum Tod des Letzteren im Jahre 1976 fortgeführter schriftlicher Dialog, wobei die Anrede bald vom förmlichen „Geehrter Herr“ zum „Lieber Kollege“ wechselt. Hier haben sich zwei Gesprächspartner gefunden, die aus der kompositorischen Praxis heraus brennend an musiktheoretischen Fragen interessiert sind und auch ein ähnliches Schicksal teilen: Sowohl der in Breslau geborene Hans-Georg Burghardt als auch der aus Aussig stammende Simbriger werden vom Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen aus ihrer bisherigen Bahn geworfen und haben danach Mühe, wieder beruflich Fuß zu fassen. Burghardt kommt in Jena und später Halle als Hochschuldozent unter, Simbriger geht in München einem kunstfernen Brotberuf nach und baut später in Regensburg das Musikarchiv der Künstlergilde Esslingen auf.

Der mit gelegentlichen Behinderungen über die innerdeutsche Grenze hinweg geführte Briefwechsel der beiden Musiker hat sich erhalten und wird heute im Sudetendeutschen Musikinstitut in Regensburg aufbewahrt. Die vorliegende Edition, die als Band 10 der Schriftenreihe „neue wege/nové cesty“ dieses Instituts im ConBrio-Verlag erschienen ist, gibt den Gedankenaustausch wieder, soweit er sich auf musikalische Belange konzentriert. Sinnvollerweise hat der Musikologe Thomas Emmerig, der als Herausgeber fungiert, entsprechende Kürzungen vorgenommen.

Es ist ein Diskurs unter Eingeweihten, der sich hier nachvollziehen lässt, wobei die Quellen, aus welchen beide ihre Argumente schöpfen, oder denen sie kritisch fragend gegenübertreten, heute zum Teil selbst schon wieder historisch sind, etwa Ernst Peppings „Der polyphone Satz“, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ oder Fritz Reuters von beiden heftig attackierte „Praktische Harmonik im 20. Jahrhundert“. Um die polare Deutung von Dur und Moll (oder um die Alternativversion von Moll als „eingetrübtem“ Dur) geht es dabei oder um Fragen der realen Existenz einer Untertonreihe, doch weitet sich das Theoriegespräch bald auf allgemeine Fragen der zeitgenössischen Kompositionspraxis aus, wobei auch die neuesten elektroakustischen Experimente und die „Musique concrète“ ins Blickfeld geraten, halb aufgeschlossen, halb skeptisch betrachtet. Einig sind die Briefpartner sich in einer Abneigung gegen einen bloßen Physikalismus, ein reines Materialdenken in der Musikpraxis, zu der das schriftliche Gespräch allmählich stärker hinübergleitet: Das eigene Schaffen der beiden wird erörtert, neue Werke werden ausgetauscht und Simbrigers Sammel- und Archivierungstätigkeit von Musik, deren Autoren Wurzeln in den ehemals deutschsprachigen Ostgebieten haben, tritt vermehrt in den Vordergrund.

Die Briefpartner haben in ihrer Schublade jeweils ein ausgearbeitetes, doch unveröffentlichtes Manuskript liegen, das ein zeitgenössisches, mit der eigenen Kompositionspraxis Hand in Hand gehendes Ton-system beschreibt. Sie können es einander nicht im vollen Umfang zugänglich machen – noch sind die Möglichkeiten des Kopierens und Vervielfältigens beschränkt. Der heutige Leser tut sich in dieser Hinsicht leichter: Herausgeber Thomas Emmerig fügt dem Briefwechsel im Anhang die entscheidenden Theorie-Entwürfe bei. Zum einen handelt es sich um Heinrich Simbrigers System der „Komplementären Harmonik“, das von der „Zwölfordnung der Töne“ ausgehend, einen eigenständigen Zwischenweg zwischen Dodekaphonie und der Gravitationskraft der Tonalität sucht. Zum anderen ist als Extrakt von Burghardts (einst als Dissertation geplantem) Manuskript sein Entwurf eines „Sekundsystems“ wiedergegeben, das eine erneuerte Diatonik anstrebt, wobei es seine geistigen Wurzeln in den auf arithmetischen Proportionen fußenden griechisch-antiken Modi sucht.
 

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