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Die Reihe als Lauschen in die Resonanz des Instruments

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Kolja Lessing stellt das Klavierwerk Wladimir Vogels bei „musica reanimata“ im Konzerthaus Berlin vor
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Ein Abend mit Kolja Lessing verspricht immer etwas Besonderes. Ungewöhnlich genug ist schon, dass dieser Musiker gleichermaßen als Pianist und Geiger auftritt. Darüber hinaus ist er als Musikforscher tätig, der Alte wie Neue Musik unablässig nach Neuentdeckungen durchforstet und Erstaunliches zutage fördert. Natürlich ist die Gruppe der von den Nazis verfolgten und ins Exil getriebenen Musiker dafür besonders ergiebig. So war Lessing maßgeblich an der Rehabilitation von Berthold Goldschmidt zu Anfang der 90er-Jahre beteiligt; dem Schülerkreis um Franz Schreker – darunter so bemerkenswerten Persönlichkeiten wie Ignace Strasfogel, Karol Rathaus, Grete von Zieritz oder Vladas Jakubenas – verschaffte er die längst fällige Aufmerksamkeit. Unlängst erhielt Lessing den Preis der deutschen Schallplattenkritik für die Einspielung des gesamten Klavierwerks von Wladimir Vogel.

Diese präsentiert ein nicht sehr umfangreiches, aber faszinierendes Œuvre und zeigt Vogels drei Schaffensphasen eines spätromantischen Anfangs, der reduzierten Exilproduktion und der späten Zwölftönigkeit plastisch akzentuiert. Verdienstvoll, dass im Rahmen der Gesprächskonzerte des Berliner Vereins „musica reanimata“, der seit fast zwanzig Jahren die Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke betreibt, etwa die Hälfte dieser Werke auch einmal live zu erleben war. Um so aufschlussreicher, als im Gespräch mit dem Musikpublizisten Habakuk Traber ein lebendiges Bild des Komponisten entstand. Traber hatte den 84-Jährigen noch in Zürich besucht, wo er nach vielen Irrfahrten des Exils doch noch so etwas wie eine Heimat finden konnte. Traber begegnete einem agilen, bis zuletzt produktiven, alten Mann, der über gewisse Stationen seines Lebens vielleicht zum ersten Mal freimütig reden konnte: „Wir waren doch damals alle links“, meinte er etwa über seinen Beitritt zur Novembergruppe im Berlin der 20er-Jahre – eine radikale Künstlervereinigung, deren Musiksektion etwa Hanns Eisler, Stefan Wolpe, Hermann Scherchen und Hans Heinz Stuckenschmidt angehörten. Vogel komponierte dort Kampfsongs wie „Der heimliche Aufmarsch“ nach einem Text Erich Mühsams. Seine Gattin hörte während des Zürcher Gesprächs davon zum ersten Mal: „Das hast du mir nie erzählt“, wunderte sie sich – in der Nachkriegs-Schweiz wäre dies wohl auch nicht gerade opportun gewesen.

Vogel war ein mehrfach Vertriebener: Als Sohn eines deutschen Vaters und einer russisch-jüdischen Mutter 1896 in Moskau geboren, wurde ihm bald das eine, bald das andere „Erbteil“ seiner „Mischlingsexistenz“ zum Verhängnis. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Familie als „feindliche Ausländer“ in die Kreisstadt Birsk im Ural evakuiert. In dieser Abgeschiedenheit konnte sich der 18-jährige Vogel dennoch entwickeln, in der Fortsetzung seiner musikalischen Ausbildung und in Diskussionszirkeln, die ihn mit sozialdemokratischen Ideen bekannt machten. Vier Jahre später wieder ein jäher Umschwung: im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam die Familie zwangsweise nach Berlin. Vogel nahm Kompositionsunterricht bei Heinz Tiessen, der wohl die Empfehlung an Ferruccio Busoni an der Akademie der Künste aussprach – bei den wenigen Studienplätzen dort eine einmalige Chance. Die sechs kurzen, unter dem Titel „Nature vivante“ zusammengefassten Stücke aus den Jahren 1917 bis 1921 spiegeln sehr deutlich eine Entwicklung, die von der Beeinflussung durch den frühen Skrjabin – Vogel war in Moskau ein eifriger Besucher seiner Konzerte – zu schärferen, ausgesparteren Formen gelangte, mit einer Neigung zur Groteske, wie sie im neusachlichen Stil verbreitet war. Der Einfluss Busonis, der seine eigenen futuristischen Visionen nicht verwirklichen konnte, sondern  stattdessen in einer „Jungen Klassizität“ in der kontrapunktischen Tradition Erneuerung suchte, zeigt sich erst später im Exil mit „Miniaturen“.

Ermutigt durch Herrmann Scherchens Förderung in der Novembergruppe hatte Vogel begonnen, mit großen Formen zu experimentieren und entwickelte das „Dramma-Oratorio“, eine Art Melodram für die Besetzung Sprecher, Sprechchor und Saxophonorchester. Seine jüdische Herkunft verheimlichte er, denn als politisch Linksstehender und als Jude fühlte er sich doppelt bedroht und emigrierte daher 1933. Im Schweizer Exil, wohin es ihn nach Umwegen über Brüssel, Straßburg und Paris verschlug, beschäftigte ihn vor allem das Sujet des „Thyl Claes“ (nach de Costers Till Eulenspiegel-Erzählung), ähnlich wie Hartmanns „Simplicissimus“ eine Auseinandersetzung mit den Nöten der Gegenwart im Spiegel einer blutigen Vergangenheit. Klavierminiaturen – virtuose Formen wie etwa im folkloristischen „Trepak“ von 1919 verwendet er jetzt nicht mehr – machen trotzdem bedeutsame Aussagen. Etwa das auf Busoni rückblickende, in spröder Polyphonie angelegte „In modo cantico“ oder die seltsam erstarrte „Musette“, deren harmonisches Gefüge immer mehr ins Wanken gerät.

So hielt Vogel es bis 1947, schrieb dann 25 Jahre lang überhaupt keine Klaviermusik mehr, um sie dann plötzlich in einer sehr eigenen Art der Zwölftönigkeit wieder auferstehen zu lassen. Vogel, so betonte Lessing, war einer der ersten im Exil, der zwölftönig schrieb, obwohl er nicht der Schönberg-Schule angehörte. Für ihn wurde sie als einzige Ästhetik, die sich wirklich klar vom Nationalsozialismus abgrenzen konnte, immer bedeutsamer. Doch er suchte einen Weg, der den „Wohlklang“ – von ihm als „primäre Forderung an ein Stück“ bezeichnet – nicht ausklammerte, denn Klangsinnlichkeit war für seine Musik immer wichtig gewesen, durch die sich zumeist die Erinnerung an russische Glockenklänge hindurchzog.

So hat Walter Labhart, Schweizer Musikforscher und Vogel-Spezialist, das für Vogels damals zehnjährigen Sohn geschriebene Stück „Russische Glocken“ (1978) als einen „12-tönigen Carillon“ bezeichnet. Auch „Intervalle“ (1980) wirkt wie ein minimalistisch erstarrtes Glockenritual: „Eine Reihe ist ein Lauschen in die Resonanz des Instruments“, umriss Lessing das Anliegen des Komponisten, Klang- und Raumgefühl nicht theoretischen Erwägungen zu opfern. Faszinierend genug, dass ihm eine Synthese gelang.

Der Klang hat bei ihm – Verbindungen zur bildenden Kunst waren Vogel außerordentlich wichtig und die Formgebungen seiner Freunde Hans Arp und Max Bill inspirierten ihn – tatsächlich etwas Skulpturales, beinahe etwas Haptisches.

Vogel, der sich nie an eine akademische Institution binden ließ, aber doch prominente Privatschüler wie Rolf Liebermann, Jacques Wildberger und Robert Suter hatte, hat deshalb unmittelbar nach Kriegsende auch Zwölftonkongresse organisiert, mit „undogmatischeren“ Anwendern wie Dallapiccola oder Malipiero. Sein vielleicht bedeutendstes Klavierwerk, das „Epitaffio per Alban Berg“ verwendet allerdings eine nicht-zwölftönige Reihe, sondern eine Mischung aus deutschen und italienischen Tonbuchstaben. Es entstand 1936 auf Anregung Herrmann Scherchens, der unmittelbar nach Bergs Tod zu einer mehrteiligen Gedenkkomposition aufgerufen hatte – Vogel war der einzige, der dies realisierte. Hier tun sich durch Ausnutzung der gesamten Klaviatur in der Tat gewaltige Klangräume auf, die sich mehr und mehr mit Verdoppelungen aller Art, Oktav- und Akkordkaskaden anfüllen. Ein rauschhaft gesteigertes, düsteres „Großes Tor von Kiew“.

Dienstag, 16. Februar 2010, 21.05 Uhr, Deutschlandfunk
Wladimir Vogel und seine Klaviermusik

Donnerstag, 18. Februar 2010, 20.00 Uhr,
im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Berlin, Musikclub
„Trotz aller Erfolge aus dem Amt gejagt. Der Komponist und Hochschuldirektor Hans Gál“ – mit David Frühwirth, Violine, und Gottlieb Wallisch, Klavier; Gesprächsgast ist Eva Fox-Gál, die Tochter des Komponisten

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