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Die unteilbare Musikgeschichte

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Der Dirigent und Komponist Michael Gielen wird siebzig
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Michael Andreas Gielen, so das Munzinger-Archiv, wurde am 20. Juli 1927 als Sohn des Regisseurs und späteren Burgtheaterdirektors Josef Gielen (1890 - 1968) in Dresden geboren. Michael Gielen, ohne Andreas als Dirigent weltweit bekannt und als Komponist hoch respektiert, wird also am 20. Juli 1997 siebzig Jahre alt. Grund genug zum Feiern, nicht nur der Person, viel mehr noch der Wirkungen wegen, die diese Person seit vielen Jahrzehnten im deutschen, europäischen, weltumspannenden Musikleben auslöst. Michael Gielen ist eine Institution, als Musiker und als Gewissen der Musik.

Die Musikgeschichte ist für ihn unteilbar. Johann Sebastian Bach huldigt er als dem Größten, viele seiner komponierenden Zeitgenossen und manchen jüngeren Avantgardisten hat er dank seiner Autorität zu großen Komponisten erhoben, indem er mit der ihm eigenen Intensität und Beharrlichkeit in deren Partituren das Geniale aufspürte.Es gibt Augenblicke, denen ein höherer Sinn innezuwohnen scheint. Ein solcher Augenblick ereignete sich vor kurzem in Freiburg im Breisgau. Dort saßen treulich vereint die Dirigenten Michael Gielen, Hans Zender und Sylvain Cambreling nebeneinander an einem breiten Tisch vor dem Emblem des Südwestfunks und unterzeichneten in Anwesenheit des Funkintendanten Peter Voß, der noch vor einem Jahr die Donaueschinger Musiktage abschaffen wollte, einen Vertrag, dessen Inhalt die herrlichsten Perspektiven für die Musik in der Zukunft eröffnet.

Im Jahre 1999, wenn der heute siebzig Jahre alte Michael Gielen die Leitung des Südwestfunk-Sinfonieorchesters an den dann fünfzig Jahre alten Sylvain Cambreling übergibt und der sechzig Jahre alte Hans Zender als Dritter im Bunde dem ruhmreichen Avantgarde-Orchester als ständiger Gastdirigent zur Seite steht, dann wird man ohne zu zögern feststellen dürfen, daß mit Gielen, Cambreling und Zender Freiburg, Baden-Baden und der Südwestfunk mit seinem Sinfonieorchester zum vielleicht wichtigsten Zentrum der Musik avanciert. Wobei der Altersunterschied im Zehnjahresabstand trotz seiner biblischen Symbolik gleichgültig erscheint: Es handelt in allen drei Fällen um ziemlich jugendliche Herren. Für Michael Gielen mag diese Kontinuität in der Generationenfolge die Bestätigung seiner Auffassung sein, daß es in der Musik und ihrer Geschichte keine Brüche, sondern nur Entwicklungen gibt. In diesen Entwicklungen allerdings ereignen sich immer wieder überraschende, aufregende Sprünge, Umstürze, Vor-und scheinbare Rückläufe, die jedoch, schaut und hört man nur genau genug in die Partituren hinein, in einer unablässigen Kontinuität stehen. Gielen, wie Zender und Cambreling gehören zu den kompetentesten Interpreten neuer und neuester Musik, aber von allen hat man auch spirituellen, klangsinnlichsten Mozart, modernen, tempogeladenen Beethoven, wunderbare, von Klangpoesie erfüllte Romantik vernommen.

Wenn sich diese drei Dirigenten dann die Geschichte der Musik durch drei teilen, braucht niemand zu fürchten, hier werde nun das Repertoire penibel rechnerisch in Stile aufgeteilt. Ihre Totalität werden sich die drei Künstler nicht nehmen lassen und Michael Gielen schon gar nicht. Michael Gielen, seit seiner Frankfurter Zeit als Operndirektor dem Musiktheater zumindest institutionell abhanden gekommen, hat sich, für manche sicher überraschend, wieder fester an an Opernhaus gebunden: an Daniel Barenboims Lindenoper in Berlin. Gielen brachte hier, gemeinsam mit Ruth Berghaus, der großen Mitstreiterin aus Frankfurter Tagen, eine zwingende, eigenwillige, musikalisch hochstehende Aufführung von Debussys „Pellèas et Mèlisande“ heraus, der sich ebenbürtig eine Inszenierung von Alban Bergs „Lulu“ anschloß, die Gielen und der Regisseur Peter Mussbach in Koproduktion der Lindenoper mit den Salzburger Festspielen herausbrachten. Gielen hielt, als er sein neues Engagement als Erster Gastdirigent der Lindenoper mitteilte, sogleich eine Überraschung bereit: Bellinis „Norma“ wird er als seine nächste Berliner Premiere dirigieren, wobei er kein Hehl aus der Tatsache macht, daß diese Entscheidung auch etwas mit den Finanzen des Hauses zu tun hat. Aber: Bellini interessiere ihn auch wirklich. Und wer damals in Frankfurt noch im Tumult der sensationellen Neuenfels-Inszenierung von Verdis „Aida“ Muße und Gehör fand, auf Gielens Dirigieren zu hören, der vernahm einen sehr authentischen Verdi-Klang: stringent im Verfolgen melodischer Linien, knapp und plastisch in der Formulierung, dramatisch durchpulst, farbreich und äußerst transparent im Klang.

Die Nähe zu Toscanini war nicht zu überhören, aber Gielen fügte dessen Unerbittlichkeit noch die klangliche Schärfe hinzu, die aus der erweiterten Klangerfahrung des modernen Musikers erwächst. Warum also nicht Bellini? In dessen melodischer Schönheit steckt eine faszinierende Gestaltungskraft: Melodie, die etwas erzählt, ganze Geschichten und Dramen von einer unendlichen Melancholie, deren Ausdruck zeitlos zu sein scheint, wenn man sie nicht sentimentalisch interpretiert. Das mag Gielen an Bellini reizen, ganz abgesehen davon, daß er die Oper schon in seiner Zeit als zwanzigjähriger Korrepetitor am Teatro Colon in Buenos Aires kennenlernte. Damals dirigierte Tullio Serafin das Werk und diese brachte aus Rom drei seinerzeit noch gar nicht so bekannte Sänger mit an Teatro Colon, nämlich Maria Callas, Fedora Barbieri und Mario del Monaco. Was Gielen allerdings am meisten imponierte: Serafin probierte mit den Sängern vier Wochen höchstpersönlich hinter verschlossenen Türen für die Premiere. So etwas prägt sich ein.

Von einem Geburtstagsartikel erwartet der Leser mit Recht auch einige biographische Auskünfte, die im Fall Michael Gielens allerdings schon so oft erteilt wurden, daß man sie als bekannt voraussetzen könnte. Also kurz:Geboren, wie gesagt, in Dresden, wo der Vater als Regisseur arbeitete. Danach in Berlin, doch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zwang die Familie (die Mutter, eine Schauspielerin, war Jüdin) in die Emigration, zuerst nach Wien, dann nach 1938 nach Buenos Aires. Michael Gielen studierte Philosophie, Klavier und Komposition, zunächst bei Erwin Leuchter in Buenos Aires, später, nach der Rückkehr nach Wien bei Josef Polnauer. Als 22jähriger spielte Gielen das gesamte Klavierwerk Schönbergs in einer öffentlichen Aufführung und wurde bekannt. In Wien begann Gielen 1950 als Korrepetitor und Kapellmeister an der Staatsoper. 1960 bis 1965 war er Chefdirigent der Königlichen Oper Stockholm, 1973 bis 1975 in gleicher Position an der Niederländischen Oper. Er leitete während dieser Zeit auch das Orchestre National de Belgique und, parallel zu seiner Frankfurter Opernzeit, auch das Symphonieorchester von Cincinnati, mit dem er unter anderem eine furiose Aufnahme von Beethovens „Eroica“ einspielte, die auf der Linie Leibowitz-Scherchen die Diskussion über die Beethoven-Interpretation speziell in Tempofragen neu entfachte. Nach dem Ende seiner Frankfurter Jahre als Operndirektor und Chefdirigent (1978 bis 1987) unterschrieb Gielen einen Vertrag als Chefdirigent des Südwestfunk-Sinfonieorchesters, das sich damit, nach einem etwas verunglückten Zwischenspiel mit einem mehr musikantischen Dirigenten, für die Fortsetzung der von Hans Rosbaud und Ernest Bour begründeten Tradition des Orchesters entschied.

Michael Gielen eilte zeitlebens der Ruf eines Spezialisten für Neue Musik voraus. Das hat er nun in den Jahren beim Südwestfunk gründlich revidiert. Die Mahler-und Brucknerzyklen, die Beethoven-Sinfonien zählen zu den wichtigsten Beiträgen der gegenwärtigen Interpretation dieser Komponisten überhaupt. Mit diesen Auseinandersetzungen ist auch das Orchester des Südwestfunks zu einem Spitzeninstrument gewachsen, das sich nicht nur wendig in den Vertracktheiten avantgardistischer Partituren zurechtfindet, sondern darüber hinaus zu einem integrativen Musizierstil gefunden hat, der für die Darstellung der großen Sinfonik der Klassik und Romantik unabdingbar ist. Michael Gielen als Orchestererzieher: nicht im Stile eines Dompteurs, sondern als Überzeugungstäter, der die Musiker auf sein musikalisches Ethos, auf den Anspruch, den das Werk an den Interpreten stellt, einschwört.

Für Michael Gielen hat es nie einen Unterschied zwischen alter und neue Musik gegeben. In den sechziger Jahren, als er in Köln die „Unmöglichkeit“ einer szenischen Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ in die praktische Wirklichkeit überführte - es war eine jener Großtaten Gielens, die Musikgeschichte schrieben - hörten wir ihn einige Male bei den Musikfestspielen in Aix-en-Provence Mozart dirigieren: „Figaro“, „Cosi fan tutte“, „Zauberflöte“. Es waren hinreißende Aufführungen, Mozart beredt, spirituell, Harnoncourts „Klangrede“ vorwegnehmend, ganz gegenwärtig in Klang und Tonfall. Wer Michael Gielen auf den wichtigsten Abschnitt seiner mehr als reichen persönlichen Musikgeschichte anspricht, der erhält spontan die Antwort „Frankfurt“. Die zehn Jahre in Frankfurt am Main, inzwischen als einer der entscheidenden Beiträge zur Geschichte des aktuellen Musiktheaters klassizifiziert, bezeichnet Michael Gielen als „zentrales Ereignis“. Es bestand eine Art Generalplan, den Christoph Bitter und Klaus Zehelein unter Gielens Zustimmung erstellten. Zeheleins geistige Autorität wirkte als Energiezentrum, die Regisseure, die Gielen und Zehelein um sich versammelten, waren mit dem „Kopf“ Zehelein dramaturgisch eng verbunden.

Was für eine Elite der szenischen Interpretation war bei Gielen in Frankfurt versammelt: Ruth Berghaus, Hans Neuenfels, Jürgen Flimm, Harry Kupfer, Alfred Kirchner, Volker Schlöndorff, um die wichtigsten zu nennen. Gielen verwahrt sich dagegen, das mit diesen Szenikern entwickelte Arbeitsprinzip als Regietheater zu bezeichnen. Die Aufführungen entstanden vielmehr aus dem genauen Lesen des Textes, des Librettos, der Partitur. Alles wurde präzis analysiert, bevor die Werke auf die Bühne gelangten. Nichts wurde dabei auf den „Kopf“ gestellt. Gielen scheut nicht die Pointierung: Es sei total konservativ gewesen, was da geschah, nämlich der strenge Bezug auf die Werksgestalt und deren Bedeutung. In dieser Hinsicht waren die „Aida“ von Neuenfels, Busonis „Doktor Faustus“, ebenfalls von Neuenfels inszeniert, Ruth Berghaus’ „Entführung aus dem Serail“, ihr „Parsifal“, Schrekers „Gezeichneten“ (wieder Neuenfels) und schließlich der „Berghaus-Ring“ die prägnantesten Darstellungen, die Gielens ästhetische Vorstellungen einer modernen und zugleich werkdienlichen Operninterpretation dokumentierten. Daß in alle den Jahren das Fernsehen es nicht für notwendig erachtete, einer dieser wegweisenden Aufführungen aufzuzeichnen, zählt für Michael Gielen zu den schmerzhafteren Erfahrungen.

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