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Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel im Musikzimmer ihrer Wohnung in der Wielandstraße, Berlin-Charlottenburg, ca. 1928, aus: Das Bechstein Bilderbuch (1928)
Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel im Musikzimmer ihrer Wohnung in der Wielandstraße, Berlin-Charlottenburg, ca. 1928, aus: Das Bechstein Bilderbuch (1928)
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Die Zugabe als Abbitte an Beethoven

Untertitel
Künstlerisches Ethos – ein Erbe des Musikerpaars Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel
Publikationsdatum
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Neben Kompositionen, Aufnahmen und Schriften hinterließen diese beiden außergewöhnlichen Musiker eine große Schar an Enkel- und Urenkelschülern sowie zahllose Briefe. Der Pianist und Komponist Artur Schnabel (1882–1951) und die Altistin Therese Behr-Schnabel (1876–1959) hatten sich 1900 auf einer Konzertreise kennengelernt und mehrere Jahre in Berlin als Paar gelebt, bevor sie heirateten. Allein und gemeinsam tourten sie durch zahllose Provinzen und Metropolen der Welt, gaben Sommerkurse in Tremezzo am Comer See, emigrierten in die USA und kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa zurück.

Die Briefe, die sie während eines halben Jahrhunderts wechselten, gehen in die tausende. Neben Freuden und Sorgen von junger Liebe, Eheleben, Familie und Kindern enthalten sie eine faszinierende Fülle an musikhistorischen Informationen. Eine Auswahl mit 1.254 Briefen ist nun in einer dreibändigen Edition erschienen, die zudem zahlreiche Fotos, Abbildungen, Anmerkungen, Werk-, Repertoire- und Personenverzeichnisse enthält und die der Autor dieses Beitrags als musikwissenschaftlicher Lektor begleitete.

Der Briefwechsel zwischen der Sängerin und dem international konzertierenden Pianisten erlaubt es, die beiden Musikerpersönlichkeiten auf gleichsam private Weise kennen zu lernen. Zudem gibt die Korrespondenz wertvolle Einblicke in das europäische, auch russische, dann sowjetische sowie das US-amerikanische Musikleben von den Kaiserreichen über Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Exil bis in die Nachkriegszeit. Erhellt werden Eigenarten des Konzertlebens verschiedener Städte und Länder zwischen Berlin, München und Wien, Oslo und Madrid, Moskau, Paris, London, New York, Los Angeles, Sydney etcetera Oft schonungslos offen geschildert werden Situationen, Standards und Mentalitäten von Veranstaltern, Dirigenten, Orchestern, Instrumenten, Sälen, Mäzenen und Publikum. Die persönlichen Erlebnisse mit Personen, Einrichtungen, Konzerthäusern, Aufführungspraktiken sowie allgemeinen kulturellen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen machen diese Briefe zu einem Who is Who der Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Eine Oral history von ganz eigenem Erkenntniswert – für musikinteressierte Leser ebenso wie für Musikhistoriker.

Musik ist keine Handelsware

Vor allem die Briefe von Artur Schnabel durchzieht mal ausdrücklich, mal unterschwellig ein roter Faden. Immer wieder ringt der Pianist und Komponist um eine auf klaren ästhetischen Grundsätzen basierende künstlerische Haltung, die zwangsläufig mit einem Musikbetrieb kollidiert, in dem wirtschaftliche und publizistische Interessen überwiegen. Ausgeprägt findet sich dieses „künstlerische Ethos“ in den Schallplattenaufnahmen von Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel sowie in ihren Briefen, die nicht zuletzt deswegen ihrem tradierenswerten Erbe zuzurechnen sind. Der große Beethoven-, Schubert- und Brahms-Interpret sieht sein Kunst- und Selbstverständnis vor allem während seiner ersten Reise nach New York im Winter 1921/22 herausgefordert. Der dortige Musikbetrieb provoziert ihn dazu, sich auf seine Berufung als Musiker und die Rolle der Musik als ein Erfahrungsmedium eigenen Rechts zu besinnen.

Seine ersten Briefe aus Amerika zeigen Schnabel als einen durch das 19. Jahrhundert geprägten Beobachter, der sich in der Neuen Welt wie aus der Zeit gefallen wähnt. Eben diese Unzeitgemäßheit macht seine damaligen Diagnosen heute aktueller denn je. Schnabel wendet sich gegen jede Verbindung von Musik mit anderen Absichten und Zielen, mit Moral, Politik, Mode, Kommerz, Society, Ruhm, Prestige, Werbung, Vertrieb. Zum Kern seines musikalischen Credo gehört die Einsicht: Musik ist keine Handelsware und dient keinem anderen Zweck als sich selbst. Daher sollte sie auch für den Interpreten kein Mittel zum Zweck von Verdienst, Erfolg und Applaus sein. Der Interpret ist nichts und niemandem anderes verpflichtet als einzig und allein der Musik, aus der er seine Legitimation zieht, wenn er sich in ihren Dienst stellt, um durch angemessene Interpretation des in den Partituren fixierten Sinns nicht seine eigene Befindlichkeiten auszudrücken, sondern ausschließlich die Werke und deren Ausdruckskraft zum Publikum sprechen zu lassen.

Nicht hab-, sondern seingierig

Am 18. Januar 1922 schreibt Schnabel an seine Frau nach Berlin über sein zweites New Yorker Konzert: „Meine Zuhörer, die ich nicht insgesamt für Heuchler halten darf, schienen stark gerührt. Ich war jedenfalls zwei Stunden lang in einer reinen eindeutigen Welt. [...] Am nächsten Morgen jedoch wurde ich peinlich zurückgeworfen in den Dreckkübel, in den Sudeltopf. Die Zeitungen, fast durchweg unfreundlich, klärten mich auf, dass ich eigentlich versungen und vertan habe. Ich habe einen glatten Misserfolg.“ Innen- und Außensicht klafften auseinander: Die glückliche Erfülltheit des Pianisten, sich in seiner Interpretation mit der gespielten Musik eins zu wissen, wurde von der Presse nicht geteilt. Im selben Brief urteilt Schnabel anlässlich des Besuchs eines Konzerts des gefeierten Stargeigers Fritz Kreisler allgemein über Amerika: „Es ist das Land der Dividualität. Man verlangt von einem Geiger; spiele wie Kreisler, und was er spielt; tust Du’s nicht, so lehnen wir Dich ab, oder erschweren Deinen Weg.“ Und über den zum Maßstab verabsolutierten Geiger sagt Schnabel dann etwas, was mehr über ihn selbst als über jenen aussagt: „Im Kreislerabend habe ich mich geschämt bis in das Herz der Kunst hinein. Er ist ein Charmautomat. Er ist, wie alle Künstler hier, ein Gesellschaftsdiener, ein Geldknecht […] Er hat sicherlich, ich nehme das zu seiner Ehre an, im innersten Winkel einen Rest von schlechtem Gewissen; den sucht er nun ganz zu verschütten, und zu überdecken mit dem Selbstbetrug, ein ,grosser, guter‘ Mensch zu sein. Was geht uns an, was für ein ,Mensch‘ ein Künstler ist?“

Im selben Brief schreibt Schnabel über die Rolle von Kunst und Musik unter dem kapitalistischen Vorzeichen von Haben oder Sein: „Der unabweisbare Tatbestand, dass man Geld benö­tigt, um Brot zu kaufen, hat alles Denken bestimmt. Und von Werten, für die es kein Brot gibt, hat man keine Ahnung; die sind eben keine Werte. Schamgefühl Ehrfurcht Demut Gesinnung Achtung: altes Gerümpel. Es gibt nur Eines zu schätzen: Erfolg. Es gibt nur Einen Erfolg: Geld. Ein Mensch, der nicht habgierig [ist], sondern wie ich zu sagen pflege seingierig, ist hier ein bald zertretener Narr.“ Schnabel macht sich dabei keine Illusionen darüber, dass der in Amerika beobachtete Umgang mit Kunst längst global bestimmend geworden ist: „Früher schenkte Kunst selbstgefühlsteigernde Anspannung, die im Gedächtnis verblieb, heute sucht man bei ihr Entspannung, eine Steigerung bestenfalls der Hautempfindungen. In Europa wird (der alten Überlieferung zufolge) wenigstens noch vorgegeben, dass die Kunst eine Veredlungssendung habe; Du weißt, wie gern ich darüber spottete. Hier ist offen zugegeben, dass sie nichts, als zu zerstreuen habe. Das ist gleichzeitig aufrichtig und verlogen. Unerhörte Lüge von der Kunst, ihrem Ursprung, aus gesehen.“

„Mit meiner Freude bezahle ich nicht!“

Aus Befremden über die New Yorker Verhältnisse formuliert Schnabel schließlich eine Selbsteinschätzung als Künstler: „Mehr und mehr komme ich dazu, mich für einen Vor- oder Nachzeit-, keinesfalls für einen Zeitgenossen zu halten. Es ist mir das meiste ja fremd. Und es wird mit mir hier nicht gelingen, was bei anderen erfolgreich unternommen wurde, an die Stelle der entzogenen Gesinnung etwas Geld zu packen. Den Tag, an dem ich begeisterungslos (auch schon in dem Augenblick) bin, wenn ich am Flügel sitze, wünsche ich nicht zu erleben. Täte ich so, wie mir hier mitunter geraten, ich könnte nur lustlos spielen. Nein, Nein, Nein! Mit meiner Freude bezahle ich nicht.“ Ein klares Plädoyer gegen den Ausverkauf der Freude an Musik. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Schnabel Zugaben fast gänzlich verweigert hat. Wie in vielen Briefen heißt es auch 1936 aus New York: „Keine Zugabe. Ich hatte keine Lust dazu“. Und „keine Lust“ bedeutet, dem Publikum gerade nicht zu geben, was es scheinbar verlangt, und als Virtuose nicht zu brillieren, wie es andere gerne tun – damals wie heute.

Wenn Schnabel ausnahmsweise doch einmal eine Zugabe spielte, dann war dies durch eine besondere Situation motiviert. Und selbstverständlich gab er dann keine Zuckerstückchen zum Besten, sondern anspruchsvolle Literatur. Bei einem seiner vielen Beethoven-Abende hatte er einmal in Washington einen falschen Stuhl mit Metallgleitern erhalten, so dass er beim Spielen furchtbar vor dem Flügel herumrutschte. Nach dem Konzert ereignete sich schließlich, was er seiner Frau Therese am 18. Februar 1936 schrieb: „Die Zuhörerschaft – in einem grauenvollen Saal von riesigen Ausmaßen – war am Schluss sehr angetan, ich verneigte mich oft, plötzlich sah ich mich zum Flügel schreiten, hörte mich murmeln, nur für mich, ich sei Beethoven eine Abbitte schuldig für die unwürdige Behandlung zweier Sonaten, und schon saß ich und – gab eine Sonate zu. Danach war ich ganz glücklich, die Sauberkeit wieder hergestellt.“ Eine komplette Beethoven-Sonate als Zugabe, doch nicht für das dankbar applaudierende Publikum, sondern als „Abbitte“ an Beethoven: Das ist künstlerisches Ethos!

Allen kunstfremden Überlagerungen zum Trotz wünscht sich letztlich jeder Hörer von Musik eine intensive, exis­tentielle Erfahrung. Dafür braucht es Interpreten, die keinen anderen Zwecken, Zielen und Zahlen dienen als mit bestem Wissen und Gewissen einzig und allein den Kompositionen. Schnabels Selbstverständnis als Diener der ihn übersteigenden größeren Sache Musik findet sich in einem Brief vom 11. März 1935 aus New York an seine Frau in Tremezzo auf den Punkt gebracht: „Meine Laufbahn mag, bisher, im Ganzen besonnt gewesen sein, weich gepolstert ist sie noch immer nicht. Ich bin seit meinem siebenten Lebensjahr Berufsmusiker, ich bin der Musik dankbar, dass sie mich beschäftigt, sie verbraucht mich ganz, das ist selbstverständlich, aber ich werde immer nur einen Teil von ihr haben, einen kleineren, als ich fühlen und denken kann.“

Die Briefausgabe
Ein halbes Jahrhundert Musik – Der Briefwechsel Artur Schnabel und Therese Behr-Schnabel 1900–1951, hrsg. von Britta Matterne und Ann Schnabel Mottier, 3 Bde., 2072 S., Hofheim 2016 (wolke)

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