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Repräsentant der Stuttgarter DIY-Musikbewegung: Komponist und Performer Felix Kubin. Foto: Jan Georg Plavec
Repräsentant der Stuttgarter DIY-Musikbewegung: Komponist und Performer Felix Kubin. Foto: Jan Georg Plavec
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Do it yourself trifft auf Neue Musik

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Underground ist nicht nur in Berlin: ein Blick in die Stuttgarter DIY-Szene
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Neue Musik kommt bei der Mehrzahl junger Musikinteressierter nicht an. Doch in subkulturellen Szenen bewegen sich Musiker immer öfter an Schnittstellen zwischen Underground- Kultur und Neuer Musik. Ob und wie Neue Musik in Verbindung mit Performance und bildender Kunst auch im Club-Ambiente funktioniert, oder ob Subkulturen möglicherweise ein neues Publikum für zeitgenössische Musik generieren, hat sich unsere Autorin Charlotte Oelschlegel gefragt und sich für die nmz in Szene-Clubs im Underground des Stuttgarter Großraums umgehört.

Felix Kubin gibt ein Konzert in einem kleinen, abgelegenen Club vor den Toren der Schwabenmetropole. Das Publikum ist jung, meist schwarz gekleidet, und tanzt wie in Trance im schummerigen Licht vor der Bühne, auf der Kubin sich minimalistisch und roboterhaft zur Musik bewegt, geradezu das Publikum dirigiert. Im Hintergrund flimmert eine repetitive Videosequenz. Mitten in seiner durch elektronische Klänge und analoge Synthesizer geprägten Performance, flicht Kubin eine aktuelle Komposition von sich für mechanisches Klavier ein und wandelt sich vom DJ zum Performancekünstler. Musik zum Zuhören und Zusehen, ohne den zum Tanzen üblichen Beat. Die Zuschauer bleiben gelassen bei diesem Einwurf Neuer Musik und hören zu – das musikalische Club-Ambiente verpasst dem Stück eine ganz neue Ästhetik.

In der als konservativ geltenden Automobil-Stadt Stuttgart ist in den letzten fünf Jahren eine florierende Underground-Musikszene entstanden, die bundesweit für Aufmerksamkeit sorgt. DIY – „Do it yourself“ ist das Prinzip, nach dem sich Postpunk-Bands wie die Nerven, Karies oder Human Abfall gegründet haben. Die meisten jungen Musiker zwischen 18 und 30 Jahren sind Autodidakten, die nie Gitarren­unterricht besucht haben, geschweige denn musiktheoretische Vorbildung haben. Musik entsteht hier durch ganz praktisches Experimentieren mit Sounds, Aufnahmetechniken und verschiedenen elektrisch verstärkten Instrumenten.

Moritz Finkbeiner lebt seit 14 Jahren in Stuttgart und ist dort in die vielfältigsten musikalischen Projekte involviert. „Ich bewege mich hier in einer DIY-Szene, in der freie Improvisation und abstrakte Musik stark zelebriert wird.“ Doch obwohl in der DIY-Szene musikalisch ähnliche Klangvorstellungen wie in der Neuen Musik existieren, findet zwischen den beiden Lagern praktisch kein Austausch statt. Neue-Musik-Nerds belächeln die Dilettanten der freien Improvisationsszene. Umgekehrt finden diese die Konzeptionisten der Neuen Musik viel zu spießig, beschreibt Finkbeiner den Zwiespalt der Kreativen in Stuttgart – sicher paradigmatisch auch für andere Großstädten.

Aufgrund der hohen Mietpreise in der Landeshauptstadt wird die Subkultur meist an den Rand gedrängt. Zwischenlösungen müssen her, die einiges an Kreativität und Flexibilität der Betroffenen erfordern. Schnell kapselt man sich ab und es entwickelt sich eine überschaubare Gemeinschaft Gleichgesinnter, die irgendwo im halbprivaten stattfindet. Selbst für Ortskundige kann es schwer sein, die „Szene“ zu finden: In Stuttgart findet der Underground im Gegensatz zu Städten wie Berlin oder Leipzig tatsächlich im Untergrund statt.

Ein fast schon offizieller Ankerpunkt der Szene ist das „Komma“ Jugendhaus in Esslingen, das als Kultureinrichtung ein spezielles Musikprogramm anbietet. Hier gibt es Proberäume, in denen Bands der ersten Stunde gegründet wurden. Viele Musiker der Szene sind hier im jungen Erwachsenenalter sozialisiert worden.

Als Leiter des kulturellen Veranstaltungsbereichs beschreibt Jörg Freitag die musikalische Ausrichtung des „Kommas“ als einen offenen Ort für Bands, die sich keinem bestimmten Musikstil zuordnen lassen und nicht kompatibel zu einen bestimmten Club sind. An den Wochenenden finden Konzerte mit Einflüssen aus dem Postpunk, aus Noise, Klassik, Avantgardemusik oder dadaistischen Auftrittsformen statt.

Der Punker trifft auf elektronische Musik und der Klassikfan auf avantgardistische Strömungen – Konzerte im „Komma“ sind Prozesse eines inspirierenden Grenzganges. Ein junger Künstler möchte beispielsweise aus House Musik ausbrechen und etwas Spannenderes erschaffen, wendet sich Ambient-Sounds zu, gelangt zu Drone-Musik und endet schlussendlich bei elektroakustischen Soundscapes. Am Ende kann es vorkommen, dass ein Musiker der keinen theoretischen Hintergrund besitzt, ähnliche Stilmittel nutzt, die auch im akademischen Kontext verwendet werden.

Als prominentes Beispiel für das genreübergreifende Programm des „Kommas“ gilt das mittlerweile erprobte Podium Festival Esslingen, das die Räumlichkeiten des Kulturzentrums einmal im Jahr als Ort für junge klassische Musik nutzt. Nach einem kammermusikalischen Konzert wird beispielsweise ein szenekundiger DJ gebucht, der thematisch angelehnte Musik auflegt, die aber aus seinem eigenen Underground-Umfeld kommt. Eine Möglichkeit für den Crossover zwischen klassischem- und subkulturellem Publikum, die beiden Seiten die Chance bietet, voneinander zu profitieren und in Kontakt zu treten.

Auf diesen Crossover muss sich das Publikum einlassen. Auch Felix Kubin ist mit seinem Programm an der Schnittstelle von Neuer Musik und Populärmusik schon im „Komma“ aufgetreten. Er erklärt sich die Offenheit des Szene-Publikums für Neue Musik folgendermaßen: „Oft haben die Zuhörer selbst einen Zugang zur Kunst oder sind selbst bildende Künstler.“ Selbst geschriebene Prosa wird zum Songtext, im eigenen Wohnzimmer werden diverse Instrumentalspuren aufgenommen, das Albumcover wird am Schreibtisch ausgearbeitet, das passende Plakat zur Release-Show erstellt. Veröffentlicht werden die Alben auf Vinyl, bei lokalen Labels wie „Treibender Teppich Records“ oder „Sunny Tapes“ und später im örtlichen Plattenladen verkauft. Dort findet sich mittlerweile eine beachtliche Sammlung an alternativen Stuttgarter Platten, die durch den Sampler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen“ im Jahr 2013 eine gewisse Popularität erreicht haben. Meist wird die Musik der Nerven, Tristan Reverb, Mosquito Ego und Co dem Postpunk zugeordnet. Was das alles mit Neuer Musik zu tun hat? Um es mit Finkbeiners Worten zu sagen: „U-Musik und E-Musik werden hier zu einem riesigen Spielplatz, auf dem man sich tummeln kann.“

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