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Dreißig Jahre später

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Ann-Elisabeth Wolff gibt die Leitung des Leipziger Festivals Euro-Scene ab
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„Alles nicht wahr“ – Oh doch! Gleich nach dem Beginn des zweiten Lockdowns hätte die 30. Leipziger Euro-Scene am 4. November starten sollen. Schon einige Tage früher hatte der österreichische Musiktheater-Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan für sich und seine Ensembles abgesagt. Die Gastspiele von Musicbanda Franui und Habjan mit „Alles nicht wahr“ nach Liedern von Georg Kreisler und „The hills are alive (Die Berge leben)“, ein Stück über die Trapp-Familie vom Schauspielhaus Graz, werden eventuell nachgeholt – vielleicht sogar in einem Extrablock der Euro-Scene 2021.

Wegen Corona ist noch alles ungewiss. Die anderen Programmpunkte, zum Beispiel ein Gastspiel des Budapester Tänzers Ferenc Fehér, hätten stattfinden können. Doch auch daraus wurde nichts. Das Festival in seiner ursprünglich geplanten Version ist auf der Website und in der Festschrift „Die ganze Welt ist eine Bühne“ in Text und Bild dokumentiert, aber nicht virtuell oder digital. „Live-Erlebnisse sind durch nichts zu ersetzen“ ist ein Credo der nach zwei Jahren Mitarbeit und 28 Jahren Leitung ihr Amt abgebenden Ann-Elisabeth Wolff.

Jedes Jahr fand sich in der ersten November-Hälfte eine neugierige und treue Zuschauerschaft vor allem aus Leipzig und Mitteldeutschland ein. Seit 1991. Ann-Elisabeth Wolff (geb. 1953) hatte nach dem unerwarteten Tod des Mitgründers Matthias Renner 1993 die Programmleitung allein und später mit einem künstlerischen Beirat geschultert. Aber das letzte Wort zwischen den Festival-Eckpfeilern Theater und Tanz hatte immer sie selbst.

Tatsächlich hätte die Euro-Scene Leipzig ohne Wolffs Bewusstsein, ihre Professionalität und ihre Leidenschaft für dramatische Musik sich nie zu dem ranghohen Veranstaltungs­unikat entwickelt, als das sie heute geschätzt wird.

Die große Opernleidenschaft von Ann-Elisabeth Wolff war ein Motor, zu dem sie mit ihrer Planung in proaktive Opposition trat. Als die Dependance des Verlags Peters 1990 geschlossen wurde, startete dessen jetzt arbeitslose Lektorin für Bühnenwerke und Vokalmusik einen neuen Berufsweg als freie Musikjournalistin. „Nach der Grenzöffnung bin ich erst einmal überall hingefahren und habe angeschaut, was es bei uns in der DDR nicht gab.“ erinnert sie sich im Gespräch. Dadurch entstand die Idee eines neuen Festivals für Leipzig: Dieses sollte all jenes Unbekannte aus dem Nahen Wes­ten bringen, wofür auf den Leipziger Bühnen bislang und auch in der Zukunft kein Platz war. So wurde die Euro-Scene mehr als ein reines Novitäten-Festival und hatte immer wieder einen halben Fuß in der klassischen Moderne. Zum Beispiel gastierte 2017 Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ in der von Colleen Scott und Ivan Liška mit dem Bayerischen Juniorballett München neu einstudierten Choreographie von Gerhard Bohner. Mehrteilige Tanzabende mit Musik Johann Sebastian Bachs gab es bei der Euro-Scene als Gastspiel.

Bis heute kommen Projekte der Euro-Scene im Schauspielhaus und im Kammertheater der Oper Leipzig. In den 1990er Jahren war die Euro-Scene fast so etwas wie die Leipziger Festwoche. Auch die Oper am Augus­tusplatz beteiligte sich damals noch mit Aufführungen wie George Taboris heute legendärer Inszenierung von Schönbergs „Moses und Aron“ oder Peter Konwitschnys Einakter-Abend mit „Herzog Blaubarts Burg“ und „Erwartung“. Wolfgang Engel hatte am Schauspielhaus mit der Kompanie von Irina Pauls eine eigene Tanzkompanie und Udo Zimmermann machte die Oper Leipzig zu einem Uraufführungshaus an der Weltspitze. Etwas von diesem Aufbruchsgeist in den Jahren vor 2000 konservierte die Euro-Scene für ein Publikum, das die Angebote der städtischen Kultureinrichtungen nicht verschmäht und trotzdem über die vom Marketing-Label Musikstadt Leipzig besonders protegierten Kulturgüter Bach, Wagner, Mahler und Mendelssohn hinausblicken will. Die Tänzer*innen Marcia Haydée, Alain Platel und Johann Kresnik standen für diese Programmlinie, die immer wieder mit Musik unterlegt war wie in Nigel Charnocks Tanz-Musik-Theater „Fever“ nach Shakespeares Sonetten (2005) oder Marjan Necaks experimenteller Mono-Oper „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ vom Moving Music Theatre (MMT) aus der nordmazedonischen Stadt Bitola (2019).

Zweimal bewies Ann-Elisa­beth Wolff größeren Weitblick als alle mitteldeutschen und europäischen Opernhäuser. Das war, als sie 2012 die Socìetas Raffaello Sanzio, Cesena mit dem Theaterstück „Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn“ eingeladen hatte und damit in einem Euro-Scene-Schwerpunkt Romeo Castellucci vorgestellt hatte. Kurz darauf machte dieser die Opernregie von seiner Neben- zur Haupttätigkeit und ist seither mit Inszenierungen wie „Salome“ bei den Salzburger Festspielen 2018 begehrt. Auch im Falle von Nikolaus Habjan war die Euro-Scene das I-Tüpfelchen auf dem Weg zur Spitzenkarriere, die ihm jüngst eine Folge von gleich fünf Inszenierungen an der Oper Dortmund eintrug. Selbstverständlich gab es bei der Euro-Scene auch die Aufarbeitung der Nazi-Karriere des Dirigenten Karl Böhm in Habjans Puppen-Dokumentation. Es war Ann-Elisabeth Wolff, die den politisch akzentuierten Kulturfunken in etwas matteren Leipziger Theaterjahren am Glühen gehalten hatte. In den kommenden Wochen und Monaten übergibt sie die Leitung an Christian Watty, einen Spezialisten für Neuen Tanz. Details zu einer Verabschiedung und Terminalternativen zu Aufführungen sollen folgen.

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