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Maria João Pires im Kreis ihrer Zöglinge. Foto: Thomas Entzeroth
Maria João Pires im Kreis ihrer Zöglinge. Foto: Thomas Entzeroth
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Ein Gegenentwurf zu Leistungsdenken und Konformität

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Die Pianistin Maria João Pires und ihre Bewegung „Partitura“ für junge Solistinnen und Solisten
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Soziales Engagement statt Konkurrenzdenken. Mit ihrer Bewegung „Partitura“ will die Pianistin Maria João Pires junge Solistinnen und Solisten vor der Isolationsfalle bewahren. Mit Klaviertalenten aus aller Welt und der Schauspielerin Mona Petri präsentierte sie sich in Zürich in einem literarisch inspirierten Recital zum Thema „Raum und Zeit“.

Der Puls beschleunigt sich, die Hände werden feucht, Angst steigt auf. So mancher Musiker wird ein flaues Gefühl in der Magengegend verspüren, wenn er vor einer Wettbewerbsjury spielen muss. Immer und immer wieder. Er durchschaut nicht, welcher Momenteindruck den Ausschlag gibt für einen Sieg, der jemanden wie ihn über Nacht ins internationale Rampenlicht katapultieren kann. Und überhaupt: was hat das alles mit Musik zu tun?

Mit dieser Sinnfrage beschäftigten sich kürzlich sechs Klaviertalente, die auf Einladung der Schweizer Orpheum Stiftung zu einem Workshop mit Maria João Pires nach Zürich kamen. In ihrem Projekt „Partitura“ verbindet die weltbekannte Pianistin Nachwuchsförderung mit ethischen Fragestellungen und gesellschaftlichem Engagement. Pires, die seit dem vergangenen Sommer nicht mehr als Solistin in Orches­terkonzerten und Solorecitals auftritt, konzentriert sich nun auf Kammermusik mit Freunden und auf Kurse, die sie bewusst nicht als Meisterklassen sieht. Stattdessen sollen erfahrene Solisten und junge Künstler in einen gleichberechtigten Dialog treten.

Mit Pires, ihrem Assistenten Miloš Popovic und dem Schriftsteller Frédéric Sounac entwickelten die Workshop-Teilnehmer in Zürich ein interdisziplinäres Programm zum Thema „Raum und Zeit in der Musik“. Die Pianisten, unter ihnen die Deutsche Annika Treutler, der Schweizer Teo Gheorghiu und der Brasilianer Richard Octaviano Kogima, spielten beim Abschlusskonzert in der Tonhalle Maag Stücke von Chopin und Auszüge aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“.

Im Wechsel mit der Musik rezitierte die Schauspielerin Mona Petri einen surreal anmutenden Text Sounacs, der als Professor an der Universität von Toulouse Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt. Die kafkaeske Handlung, die auf die Gralssuche in Wagners „Parsifal“ Bezug nimmt, karikiert die Vorstellung von einem Wettbewerb, vor dem es zunächst kein Entrinnen zu geben scheint. Doch dann entpuppt sich alles als Albtraum. Auf der Bühne saßen die Musiker um einen Tisch herum, anders als bei einem Wettbewerb waren sie abwechselnd Spieler und Zuhörer. Und am Ende stand die Frage: „Was ist Musik?“

Ob Wettbewerbe abgeschafft werden sollten, stand hier nicht zur Debatte. Viele würden einem solchen Ansinnen vermutlich sogar vehement widersprechen. Pires geht es vielmehr darum. Musiker dazu anzuregen, innere Freiräume zu finden. „In der heutigen Welt dominieren Konkurrenzdenken und Konformität. Ruhm und Geld haben einen hohen Stellenwert“, meint sie. Auch Künstler begreifen sich oft als Teil einer Leistungsgesellschaft. Wir wollen ihnen dabei helfen, frei in alle möglichen Richtungen zu denken.“ Wer sich für einen Pianisten-Workshop anmeldet, muss nicht nur ein bestimmtes Repertoire vorbereiten, sondern sich auch durch eine Liste von Büchern arbeiten. „Solisten leben oft sehr isoliert und konzentrieren sich nur auf ihre Konzerte“, sagt sie. „Ich sehe es als großes Problem, dass sie viel zu wenig über die anderen Künste und die Welt um sie herum wissen.“

Zugleich wirbt Pires für neue Konzertformate: „Man muss die starren Muster aufbrechen, die noch aus der Zeit von Liszt stammen. Oft hört das Publikum einem Virtuosen am Flügel zu, ohne einen persönlichen Zugang zu den Stücken zu finden.“ Musik auf ein einfaches Niveau zu reduzieren, hält sie allerdings für einen fatalen Fehler. „So etwas ist eine Vergewaltigung der Kunst. Bei den Partitura-Workshops versuchen wir, Musik allen unverfälscht zugänglich zu machen.“

Pires möchte auch diejenigen erreichen, die bisher nie einen Konzertsaal betreten haben. Musik, davon ist sie überzeugt, sollte mit allen geteilt werden. Gesprächskonzerte in Krankenhäusern und Gefängnissen sind daher ein wichtiger Teil von Partitura. Im schweizerischen Solothurn trat sie mit Musikern bereits in einem Hochsicherheitsgefängnis auf. Und wenige Tage vor dem Konzert in der Tonhalle Maag spielten sie in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik im nahegelegenen Oetwil.

Im Frühjahr 2019 werden sich die sechs Pianisten, darunter auch die Portugiesin Marta Patrocínio, die Armenierin Marianna Uzankichyan und der Georgier Giorgi Iuldashevi, zum zweiten Teil des Workshops im portugiesischen Belgais wiedertreffen. In ihrem Landgut nahe der Grenze zu Spanien hatte Pires 1999 ein Zentrum für künstlerische Studien eröffnet und einen Kinderchor ins Leben gerufen. Enttäuscht über das mangelnde Verständnis der Behörden für ihre Gesellschaftsprojekte zog sie für mehrere Jahre nach Brasilien, bevor sie 2012 mit befreundeten Künstlern Partitura gründete.

Die interdisziplinären Erkundungen, die Brücken zwischen Musik, Literatur, bildender Kunst und Theater schlagen, werden nicht nur in Belgais, sondern auch an verschiedenen Orten im Ausland fortgesetzt. In Brüssel, wo Pires bis vor anderthalb Jahren lebte, arbeiten Miloš Popovic und seine Frau, die Sopranistin Talar Dekrmanjian, weiter mit dem Hesperos Chor für sozial benachteiligte Kinder zusammen.

Ihren Sitz hat die Association Partitura in der Schweiz, wo sie auch künftig mit der Orpheum Stiftung kooperieren will. Seit nunmehr 28 Jahren setzt sich die von dem langjährigen Medien­unternehmer Hans Heinrich Coninx gegründete Stiftung für eine nachhaltige Unterstützung von Solisten ein. Junge Musiker haben die Möglichkeit, mit bekannten Dirigenten und Orches­tern aufzutreten und sich einem breiten Publikum vorzustellen. Jedes Jahr stehen bei Orpheum ein bis zwei Sinfoniekonzerte sowie ein Förderrecital auf dem Programm. Unter den mehr als hundert Musikern, denen die Stiftung bereits Starthilfe gab, waren beispielsweise die Pianistinnen Yuja Wang und Alice Sara Ott, ihre Kollegen Rafał Blechacz und Francesco Piemontesi, der Perkussionist Martin Grubinger, der Geiger Renaud Capuçon und der Cellist Christian Poltéra.


  • Die Autorin reiste auf Einladung der Orpheum Stiftung nach Zürich.

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