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Eröffnungskonzert des Münchener Jüdischen Kulturbunds in der Münchener Hauptsynagoge am 4. März 1934. Das Orchester des Münchener Kulturbunds spielt unter der Leitung von Erich Erck. Foto: Bayer. Israelit. Gemeindeztg. 15.3.1934 / HMT München
Eröffnungskonzert des Münchener Jüdischen Kulturbunds in der Münchener Hauptsynagoge am 4. März 1934. Das Orchester des Münchener Kulturbunds spielt unter der Leitung von Erich Erck. Foto: Bayer. Israelit. Gemeindeztg. 15.3.1934 / HMT München
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Ein goldenes Dreieck

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Die Erforschung der jüdischen Musikkultur in Deutschland
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Wenn es um die Erforschung jüdischer Musikkultur geht, zählt Deutschland international zu den Vorreitern. Dafür sprechen aktuell zwei Professuren in Hannover und Weimar sowie gewichtige Einrichtungen wie das „Europäische Zentrum für jüdische Musik“ in Hannover. Mit dem neuen „Ben-Haim-Forschungszentrum“ an der Musikhochschule München kommt ein weiterer Baustein hinzu.

Auch der Lehrbetrieb wird vom neuartigen Corona-Virus beträchtlich durcheinander gewirbelt. Für die Hochschule für Musik und Theater in München ist das besonders schmerzlich, denn: Hier sollte Ende März das Ben-Haim-Forschungszentrum eröffnet werden. Daraus wurde nichts. Wann genau die Eröffnung nachgeholt wird, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Dafür aber ist schon jetzt klar, dass diese Einrichtung einen gewichtigen Beitrag zur Erforschung der jüdischen Musikkultur leisten wird – nicht nur im süddeutschen Raum. Der Namensgeber des Instituts verweist auf die Schwerpunkte der Forschung. Immerhin war Paul Ben-Haim, geboren 1897 als Paul Frankenburger in München und 1984 in Tel Aviv verstorben, ein Dirigent und Komponist, der 1933 von den Nazis ins Exil nach Palästina getrieben worden war. Bis dahin war er Assistent von Bruno Walter an der Münchner Oper sowie Kapellmeister in Augsburg. In Palästina zählte er zu den Mitbegründern des israelischen Musiklebens.

München – historische Verantwortung

Demzufolge möchte das nach ihm benannte neue Forschungszentrum in München insbesondere das Leben und Wirken von im Dritten Reich verfolgten Komponisten und Musikern in den Fokus rücken – samt Wiederaufführungen und Dokumentationen von vergessenen Werken. Hierzu ist auch Musikvermittlung an Schulen geplant. Bereits Anfang März hat der Musikwissenschaftler Tobias Reichard die Arbeit aufgenommen. Der spezifische Schwerpunkt auf verfemte Musik ist an diesem speziellen Standort in München besonders wichtig und sinnvoll. Als einstige „Hauptstadt der Bewegung“ hat die bayerische Landeshauptstadt eine besondere historische Verantwortung. Noch dazu befindet sich die Münchner Musikhochschule im ehemaligen „Führerbau“. Das NS-Gemäuer hat den Krieg überlebt. Schon bei seiner Begrüßung auf dem Symposion „Jüdische Musik im süddeutschen Raum“, das im Sommer 2019 veranstaltet wurde (siehe nmz 9/2019), betonte Hochschul-Präsident Bernd Redmann eine „lebendige Erinnerungskultur“, der man sich besonders verpflichtet fühle.

Auch die Stadt München unterstützt das neue Zentrum. Mit ihm erfährt die Erforschung der jüdischen Musikkultur in Deutschland einen weiteren, wichtigen Impuls – eine „Erinnerungskultur“, die auf diesem Gebiet gar nicht so lebendig war. Selbst in Deutschland mit seiner besonderen Geschichte ist die Erforschung der jüdischen Musikkultur eine vergleichsweise junge Disziplin. Ein Rückblick auf das Jahr 1988: Der ungarischer Organist, Musikwissenschaftler und Dirigent Andor Izsák gründet, gemeinsam mit der Universität Augsburg, das „Europäische Zentrum für Jüdische Musik“ (EZJM).

Vier Jahre später zieht die Einrichtung nach Hannover um, wo es der dortigen Musikhochschule angegliedert wird. Seit 2011 ist das Zentrum in der Villa Seligmann in Hannover untergebracht. Zuvor war Izsák 2003 zum Professor für synagogale Musik berufen worden. Im Oktober 2015 übernimmt Sarah M. Ross die Leitung des EZJM, um zugleich ihre Professur für jüdische Musikstudien anzutreten. Zu diesem Zeitpunkt wirkt bereits der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov als Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar.

Diese Professur war zum Sommersemester 2013 neu geschaffen worden. Bis auf diese zwei Professuren in Hannover und Weimar gibt es nichts Vergleichbares in Europa. In den USA gibt es hingegen nur in Los Angeles eine vergleichbare Professur, und selbst in Jerusalem bildet die Erforschung jüdischer Musik lediglich einen Schwerpunkt innerhalb der Musikwissenschaft. Natürlich ist in Deutschland die Aufarbeitung der besonderen Geschichte eine Grundmotivation, um auch die Erforschung der jüdischen Musikkultur zu forcieren.

Allerdings gerierte sich der Kommunismus sehr antijüdisch, und trotzdem findet in Osteuropa und in Russland eine profunde Erforschung der jüdischen Musikkultur kaum oder gar nicht statt. Zwar war in den 1990er-Jahren ein Zentrum für jüdische Musik innerhalb der jüdischen Gemeinde in Sankt Petersburg aktiv, aber: „Das ist ziemlich eingeschlafen“, berichtet Nemtsov. Als universitäre Forschung sei dieses Thema nie etabliert gewesen, und in Russland gibt es nur wenige Publikationen auf diesem Gebiet.

Mit der Eröffnung des „Jüdischen Museums und Zentrums für Toleranz“ in Moskau 2012 sieht Nemtsov eine größere Offenheit und Neugierde in der russischen Gesellschaft. Er erhofft sich dadurch auch neue Impulse für die Forschung. Ähnliches weiß Ross für Mittel-Osteuropa zu berichten. So veranstalte das 2014 eröffnete „Museum der Geschichte der polnischen Juden“ in Warschau auch wissenschaftliche Konferenzen und Workshops, so Ross. Gleichwohl hat Deutschland einen Vorsprung von rund drei Jahrzehnten, wenn es um die Erforschung der jüdischen Musikkultur geht.

Damit ist Deutschland ein Vorreiter, aber: Angesichts der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg schon vor 75 Jahren endete, sind auch diese dreißig Jahre kein wirkliches Ruhmesblatt. Warum es auch in Deutschland so lange gedauert hat mit der Erforschung der jüdischen Musikkultur? „Diese Disziplin ist erst in der Entwicklung“, erklärt Nemtsov. „Sie war schon vor dem Holocaust nicht sehr stark präsent.“ Einen „Pionier im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ nennt Nemtsov den Musikwissenschaftler Abraham Zvi Idelsohn.

In Russland war dieser als Kantor ausgebildet worden und emigrierte in den Westen, um in Deutschland zu studieren. Von 1906 bis 1921 sammelte und transkribierte er Gesänge orientalischer Juden in Jerusalem. „Sonst aber war die jüdische Musikkultur als Forschungsbereich nicht vorhanden“, so Nemtsov weiter. „Man hat das Thema nicht sonderlich ernst genommen, weder in der Öffentlichkeit noch in der Musikwissenschaft.“ Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass die jüdische Musikkultur über die Welt zerstreut ist.

Hinzu kommt die generelle Heterogenität der jüdischen Kultur, was mit ebendieser Diaspora zusammenhängt. Und natürlich sind da die Verfolgungen über die Jahrhunderte: nicht nur die Gewalt an sich, sondern auch die vielen Vorurteile. „Es wurde oft behauptet, es gäbe keine eigenständige Musikkultur im Judentum, sondern diese sei nur eine Ansammlung von epigonalen, zusammengeklauten Melodien“, so Nemtsov. Allein die ersten musikethnologischen Studien haben das Gegenteil bewiesen – wie ebenso die Arbeit des EZJM.

Hannover – Europäisches Zentrum für Jüdische Musik

Es widmet sich heute der Erforschung, Rekonstruktion, Dokumentation und Vermittlung jüdischer Musik in allen Erscheinungsformen. Die Bandbreite reicht vom synagogalen Gesang über paraliturgische bis hin zu säkularen jüdischen Musiktraditionen in verschiedenen kulturellen Kontexten und Epochen – in Geschichte und Gegenwart. Seit Winter 2016 wird in Hannover ein eigener Master-Studiengang für jüdische Musikstudien angeboten, den man im Rahmen des musikwissenschaftlichen Masters als Schwerpunktfach studieren kann.

Für Forschungsprojekte wird auch mit anderen Einrichtungen gearbeitet, etwa dem Jüdischen Museum in Augsburg, der jüdischen Abteilung des Landesmuseums in Braunschweig oder der „Bet-Tfila-Forschungsstelle“ für jüdische Architektur in Europa an der TU Braunschweig. Publiziert wird in der eigenen Studienreihe im Verlag Peter Lang. Dort erscheint im Herbst 2020 das Buch „Jüdisches Kulturerbe MUSIK – Divergenzen und Zeitlichkeit. Überlegungen zu einer Kulturellen Nachhaltigkeit aus Sicht der Jüdischen Musikstudien“.

Dabei werden die seit den 1960er-Jahren vermehrt aktiven jüdischen Kulturerbe-Projekte in Europa genauer unter die Lupe genommen. Infolge des Holocaust würden „Relikte der Vergangenheit“ zwar vor dem Vergessen bewahrt, ließen jedoch die Bedürfnisse der gegenwärtigen jüdischen Gemeinden zumeist außen vor. Es offenbarten sich Gefahren von Konstruktion, kultureller Aneignung und Instrumentalisierung des Erbes. Dabei zeige sich auch, dass der Begriff „Jüdisches Kulturerbe“ nicht deckungsgleich sei mit dem englischsprachigen „Jewish Heritage“. „Ich schlage das Konzept der kulturellen Nachhaltigkeit vor, weil das ‚Jüdisches Kulturerbe‘ als Begriff wegen des Holocaust zu stark besetzt ist“, folgert Ross. Ebendieser zeithistorische Kontext, die Verfemung nämlich jüdischer (Kunst-)Musik und ihrer Schöpfer im Dritten Reich und ihre „Wiederbelebung“, bildet wiederum den Schwerpunkt des neuen „Ben-Haim-Forschungszentrums“ in München.

Weimar – gesamte Bandbreite jüdischer Musikkultur

Dagegen möchte Nemtsov in Weimar die gesamte Bandbreite jüdischer Musikkultur abbilden: von den uralten Tropen über jiddisch-sephardische Lieder und Klezmer bis hin zur Neuen Jüdischen Schule im 20. Jahrhundert. Über zweitausend Jahre Musikkultur werden ergründet, und damit ist der Lehrstuhl in Weimar der erste, voll ausgestattete für jüdische Musikgeschichte in Europa. Als enger Partner agiert das 2012 gegründete „Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg“ (ZJS), das wiederum mit den drei großen Berliner Universitäten, wie auch dem „Abraham Geiger Kolleg“ an der Universität Potsdam kooperiert. Der jüngste Coup in Weimar ist die Sammlung „Musica Judaica“, die umfassendste ihrer Art in Deutschland.

Ein Ost-Berliner Historiker hatte über viertausend Noten, Manuskripte, Dokumente und Bücher gesammelt. Sein Sohn hat diese Sammlung der Musikhochschule in Weimar übergeben. Und so dokumentiert das jetzige Dreieck Hannover-Weimar-München die in dieser Form singuläre, einzigartig vielfältige Lehre jüdischer Musikkultur in Deutschland, zumal jedes Institut ein eigenes Profil hat. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben. „Mein Traum wäre, wenn dieses Thema in allen musikwissenschaftlichen Instituten präsent wäre – dass es eben nicht reduziert ist auf diese drei Standorte“, so Ross.

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