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Ein Hypnotiseur am Pulte

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Eva Weissweiler legt zum 125. Geburtstag Otto Klemperers eine Biografie vor
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Bis heute hat sich Otto Klemperer als einer der großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts, erster Protagonist der „Neuen Sachlichkeit“ und mitschöpfender Leiter vieler Uraufführungen eine große Fan-Gemeinde bewahrt. Umso erstaunlicher ist, dass eine deutschsprachige Biografie dieses deutsch-jüdischen Künstlers bis heute nicht vorlag. Die Kölner Musikwissenschaftlerin Eva Weissweiler, unter anderem mit Werken über Clara Schumann oder Fanny Mendelssohn einschlägig renommiert, erzählt nun, zum 125. Geburtstag des gebürtigen Breslauers, das Leben einer schwer fassbaren, stets durch seelische Erkrankungen gefährdeten Persönlichkeit und ihrer grandiosen künstlerischen Ausdruckskraft.

Klemperers Lotte erfuhr erst mit neun Jahren, dass ihr Vater Jude war. Das war 1933, als die keinesfalls neuen antisemitischen Schmähungen seiner „modernen“, „undeutschen“ Interpretationen lauter wurden. Otto Klemperer war 1910 aus der Hamburger Synagoge ausgetreten (wie übrigens auch sein Vetter Victor, dessen Tagebücher neidische Anflüge gegen den berühmteren Cousin offenbaren), konvertierte während seiner Kölner Zeit (1917–24) zum Katholizismus, um sich im Alter wiederum zu seiner Herkunftsreligion zu bekennen.

Antisemitische Kritiken hatte es, weniger offensichtlich, auch schon in Köln gegeben, wo Klemperer, anders als der Klappentext sagt, keineswegs mit dem Oberbürgermeister Adenauer „befreundet“ war, sondern, wie Weissweiler erstmals mit einem Brief Adenauers belegen kann, äußerst kalt verabschiedet wurde. In Köln aber begründete der fast zwei Meter große Mann seinen Ruf als Förderer zeitgenössischer Musik; Schreker, Bartók, Janácek („Jenufa“ als deutsche Erstaufführung), Pfitzner und Busoni sind nur einige der Komponisten, deren Werke er dort erstmals dirigierte. Nach Köln und Wiesbaden feierte er Triumphe und heftig diskutierte Premieren an der Kroll-Oper in Berlin. Hier arbeitete er bis zum Aufbruch ins kalifornische Exil mit Schönberg, Weill, Strawinsky und vielen anderen zusammen, die von den Nazis als „Kulturbolschewisten“ diffamiert wurden. Natürlich, so die Autorin, die über die Verfolgung jüdischer Musiker publiziert hat, ist Klemperers Lebensschicksal exemplarisch für das jüdischer Künstler, die sich vor Hitlers Verfolgungen gefeit glaubten, weil sie mit ihrem Judentum abgeschlossen hatten. „Er hat es nie verwunden“, schreibt Weissweiler, „als ‚Schädling‘ aus dem Land, dessen Musik er so liebte, vertrieben worden zu sein und fasste im amerikanischen Exil nie wirklich Fuß.“

1947 kehrte er nach Europa zurück und wurde, dank eines rauschenden Comebacks in Deutschland, England und der Schweiz, mit 74 Jahren Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Weissweiler hat den Schwerpunkt dieses plastisch erzählten, mit viel Zeitkolorit belebten Lebensbildes auf die Zeit bis 1933 gelegt (bewegend die Begegnungen mit Gustav Mahler!), und sich eine zweifellos ermüdende Aufzählung der zahllosen, wenn auch gefeierten Konzertreisen, der vielen Verletzungen und Erkrankungen aus den 50er- und 60-er Jahren, erspart. Sie lässt für diesen Zeitraum Zeitzeugen, Freunde und Kollegen sprechen, was ungleich aufschlussreicher ist, zumal darunter die wunderbaren Briefe des vormaligen Assistenten und Lebensfreundes Paul Dessau oder die von tiefem Verständnis zeugenden Notate Ernst Blochs sind.

Dem englischen Klemperer-Biografen Peter Heyworth (dessen erster Band, anders als der zweite, ins Deutsche übersetzt wurde), kann sie zahlreiche Ungenauigkeiten nachweisen, und da er niemals Fundstellen preisgab, recherchierte Weissweiler ausgreifend in Europa und den USA. Viele Briefwechsel und Lebenszeugnisse lesen wir erstmals; die unveröffentlichten, rührenden Memoiren seiner Geliebten im Exil, Maria Schacko, hat die Autorin selber aufgespürt. Die gänzliche Vernachlässigung des Komponisten Klemperer durch Heyworth kann sie nur ansatzweise heilen – dieses Werk zu sichten, wäre eine weitere Arbeit wert. Weissweiler würdigt auch, anders als Heyworth, Ehefrau Johanna als großartige Sängerin und treue Gefährtin und schildert mit Empathie und ohne falsche Scheu die lebenslange manisch-depressive Erkrankung Klemperers, die aber auch ein Gutteil seines Charismas ausmachte: Die Presse nannte ihn einen „Hypnotiseur am Pulte“ und Weissweiler hält die „kristalline, analytische Klarheit“ seines Dirigats bis zum Lebensende für singulär. Auf eine Diskografie hat der Verlag aus einsichtigen Gründen verzichtet: Bei Hunderten von Titeln auf einem sich ständig ändernden Markt mit Neu- und Wiederauflagen hätte sie an die 50 Seiten mehr und einen entsprechend höheren Verkaufspreis bedeutet; im Internet wird man besser fündig. Nützlich wäre indes eine kommentierte Zeittafel gewesen; die darf man hoffentlich in einer späteren Taschenbuchausgabe erwarten.

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