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Gezeichnet von der Lagerhaft: Alexander Weprik 1953/54 in Sibirien.  Foto: Archiv jüdischer Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
Gezeichnet von der Lagerhaft: Alexander Weprik 1953/54 in Sibirien. Foto: Archiv jüdischer Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
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Eine eigenständige jüdische Stimme in der Sowjetunion

Untertitel
Zur Wiederentdeckung des Komponisten Alexander Weprik (1899–1958) · Von Norbert Florian Schuck
Publikationsdatum
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Hätte man sich um 1935 bei Arturo Toscanini, Issay Dobrowen, Hermann Scherchen, Alexander Gauk oder Dimitri Mitropoulos danach erkundigt, was es mit Alexander Weprik auf sich habe, so hätte wohl jeder dieser Dirigenten geantwortet, Weprik sei einer der herausragenden russischen Komponisten der Gegenwart. Sie alle hatten seine Werke dirigiert. Schott und Universal Edition führten ihn im Verlagsprogramm und bestätigten damit, dass er auch in Westeuropa als wichtiger Vertreter zeitgenössischer Musik wahrgenommen wurde.

Ohne Zweifel befand sich Weprik Mitte der 30er-Jahre auf dem Höhepunkt seines Ansehens. Zwei Jahrzehnte später war davon nur wenig geblieben. 1954 wurde er nach fast vierjähriger Haft aus einem sibirischen Straflager entlassen. Als Vorwand, ihn dorthin zu deportieren, hatte unter anderem seine Musik herhalten müssen, denn Alexander Weprik war Jude, nicht nur der Abstammung nach, sondern auch seinem künstlerischen Selbstverständnis gemäß. In seinem Leben und Schaffen spiegelt sich beispielhaft die Geschichte jüdischer Kultur in der Sowjetunion, die eine Geschichte schleichend voranschreitender Unterdrückung ist.

Dass sich der 1899 im ukrainischen Balta geborene Weprik dereinst zu einem der führenden jüdischen Vertreter folkloristischer Musikästhetik entwickeln würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Seine Eltern hatten sich vom Judentum abgewandt und zogen Alexander und seine beiden Schwes­tern in atheistischem Geist groß. Auch die jiddische Sprache wurde in der Familie nicht gepflegt, die Kinder sprachen russisch miteinander. Weprik verbrachte seine frühe Kindheit überwiegend in Warschau. Nachdem sich die Eltern getrennt hatten, zog die Mutter mit den Kindern 1909 nach Leipzig. Für den musikalisch hochbegabten Alexander erwies sich dies als Glücksfall: Er wurde am Konservatorium angenommen, konnte regelmäßig in Gewandhaus und Thomaskirche Darbietungen großer Künstler beiwohnen und lernte sogar Arthur Nikisch persönlich kennen. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfuhr diese Episode in Wepriks Leben ein abruptes Ende. Die Familie musste Deutschland verlassen und ließ sich in Petrograd nieder. Dort begann Weprik 1918, bei Alexander Shitomirskij Komposition zu studieren. Eine Symphonische Dichtung, die er 1921 dem Konservatoriumsdirektor Alexander Glasunow vorlegte, stieß bei diesem auf Ablehnung. Weprik bewältigte die dadurch ausgelöste schöpferische Krise durch Übersiedlung nach Moskau, wo er seine Studien bei Nikolai Mjaskowskij fortsetzte und 1923 abschloss. Unmittelbar anschließend erhielt er selbst am Moskauer Konservatorium einen Lehrauftrag. In Moskau kam er schließlich in Berührung mit Musikern um den Pianisten David Schor, die sich der Entwicklung und Pflege jüdischer Kunstmusik widmeten. Die Anregungen, die er in diesem Kreis erhielt, erwiesen sich als für sein weiteres Schaffen entscheidend. 1923 wurde er Gründungsmitglied der Gesellschaft für jüdische Musik.

Die Arbeit dieser Vereinigung knüpfte an eine 1908 in Sankt Petersburg gegründete Gesellschaft für jüdische Volksmusik an, die während des Krieges eingegangen war. In den spä­ten Jahren der Zarenherrschaft waren die Bedingungen zum Aufbau einer eigenständigen jüdischen Musikkultur in Russland so günstig wie später nicht wieder. So konstatierte der Komponist Michail Gnessin, selbst ein Protagonist dieser Bewegung, auf diese Zeit zurückblickend „eine bemerkenswert wohlwollende Aufmerksamkeit russischer Musiker gegenüber der jüdischen Musik […]“. Nach Vorbild des „Mächtigen Häufleins“ begannen nun jüdische Komponisten, Charakteristika jüdischer Volksmusik für die Kunstmusik zu nutzen. Bereits 1913 konstatierte der Musikwissenschaftler Liveri Sacchetti die Existenz einer „Neuen Jüdischen Schule“.

Bekenntnis zur jüdischen Musik

Die 1923 gegründete Gesellschaft für jüdische Musik sah ihre Aufgabe weniger in Erforschung der Volks- als in der Verbreitung der Kunstmusik. Gemeinsam mit den etwas älteren und bereits in der Vorkriegszeit aktiv gewesenen Brüdern Grigorij und Alexander Krein, sowie Michail Gnessin, bildete Alexander Weprik die Musikkommission der Gesellschaft, deren Aufgabe in der Organisation von Veranstaltungen und dem Zusammenstellen von Konzertprogrammen bestand. Als Komponist, der seine eigenen Werke regelmäßig in den Konzerten der Gesellschaft zur Aufführung bringen konnte, bekannte er sich leidenschaftlich zur jüdischen Folklore. Er war fasziniert vom melodischen Reichtum jüdischer Volkslieder und -tänze, deren Modi in seinen Werken an die Stelle des hergebrachten Dur und Moll traten, woraus er auch harmonisch Konsequenzen zog. Das Musikleben Westeuropas, das er aufmerksam aus der Ferne verfolgte, begeisterte ihn und stieß ihn gleichermaßen ab, wie sich vor allem an seiner Rezeption Schönbergs zeigt. Zwar gestand er ihm Genialität zu, wertete aber das Streben nach Atonalität und die Entwicklung der Zwölftonmusik als künstlerische Sackgasse. Weprik kritisierte, dass Schönberg „alles, was über die Grenzen von Dur und Moll“ hinausgehe, „bereits als Zerfall der Tonalität“ werte und andere Wege als den seinen gar nicht sehen könne, denn: „von der Existenz anderer Modi gibt es im Westen keine Vorstellung.“ Ganz ähnlich äußerte sich später auch Dmitrij Schostakowitsch und gleichzeitig mit Weprik – im Westen! – John Foulds. Weprik gehörte damit zu den Protagonisten einer Gegenbewegung zur dodekaphonischen Richtung, die auf Grundlage ihrer Idee von der Erneuerung der Musik aus dem Fundus der Modi allerdings zu gleichermaßen neuartigen, vorher nicht gehörten Klängen gelangte. Zwar fühlte er sich in seiner Ansicht, dass die russische Musik den Blick Richtung Asien richten solle, durch eine Reise bestätigt, die er von Juni bis November 1927 im Auftrag der sowjetischen Hauptverwaltung für Berufsausbildung „Glawprofobr“ in den Westen unternahm, und die ihn nach Berlin, Krefeld, Frankfurt am Main, Wien und Paris führte, doch verfolgte er mit seiner Unternehmung zugleich das Ziel, Kontakte zwischen westlichen und sowjetischen Musikern aufzubauen und einen intensiven Austausch, etwa in Form von Konzertreisen, anzuregen. Neben der persönlichen Bekanntschaft mit Schönberg, Hindemith, Ravel und anderen wichtigen Akteuren des westlichen Musiklebens, brachte ihm die Reise die Gewissheit, auch außerhalb Russlands als Komponist anerkannt zu sein. Seine Position in Moskau schien endgültig durch die Ernennung zum Professor im Jahr 1930 gefestigt. 1938 wurde ihm die Leitung der Abteilung für Instrumentation am Konservatorium übertragen.

Diese Zeichen äußerer Absicherung erwiesen sich als trügerisch, denn zugleich war die Entfaltung jüdischer Kultur von der sowjetischen Führung immer weiter eingeschränkt worden. Sowohl Lenin als auch Stalin hatten erklärt, dass es sich bei den Juden um keine Nation im Sinne der anderen Völker des sowjetischen Herrschaftsgebietes handele, und ihre vollständige Assimilation gefordert. Faktisch bedeutete dies die schrittweise Zerstörung des eigenständigen jüdischen Geisteslebens. Dem von Stalin 1929 verkündeten „Großen Umbruch“, in dessen Folge alle unabhängigen jüdischen Kultureinrichtungen entweder aufgelöst oder staatlicher Kontrolle unterworfen wurden, fiel auch die Gesellschaft für jüdische Musik zum Opfer. Bereits in einem ihrer letzten Konzerte, das ausschließlich Weprik gewidmet war, hatte dieser den neuen Zeitgeist zu spüren bekommen: Sein „Kaddish“ für Viola und Klavier op. 6 durfte nur als „Trauriges Poem“ erklingen, und im Titel der „Drei jüdischen Volkstänze“ für Klavier op. 13b musste das Wort „jüdisch“ entfallen. Eine kurz darauf vollendete „Orchestersuite über jüdische Themen“ op. 17 konnte nur noch als „Fünf kleine Stücke für Orchester“ erscheinen. Weprik versuchte den Repressionen zu begegnen, indem er einerseits seinen jüdischen Stil mit systemtreuen Bekenntnissen verband – so in dem jiddischsprachigen Chorwerk „Stalinstan“ –, anderseits sich der Erkundung kirgisischer Volksmusik zuwandte. Dennoch wurde er 1943 zusammen mit anderen jüdischen Professoren aus seinen Ämtern am Konservatorium entlassen. Zur Zeit der unausgesprochen antijüdischen Staatskampagne gegen „wurzellose Kosmopoliten“ wurde Weprik 1950 vom Geheimdienst verhaftet. Man warf ihm vor, „zionistische Musik“ komponiert sowie ausländische Radiosender gehört zu haben und wertete einen über 20 Jahre alten Brief Toscaninis als Beweis für antisowjetische Auslandskontakte. Um die andauernden Folterungen der Untersuchungshaft zu beenden, unterschrieb Weprik, bereits schwer herzkrank, ein Geständnis, wurde zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt und in den Nord­ural deportiert. Von aufreibender körperlicher Arbeit blieb er dort zwar wegen seiner schlechten Gesundheit verschont, doch hatte er im Sinne der von der Lagerleitung geforderten „Kulturerziehung“ das Musikleben des Lagers zu organisieren. Er wurde Leiter einer „Kulturbrigade“ aus inhaftierten Musikern, Sängern und Tänzern, mit der er Häftlinge und Wärter zu unterhalten hatte, und erstellte Arrangements bekannter Lieder und Opernarien für sein Ensemble. Das geistige Überleben in der unwirtlichen Taiga sicherte ihm die schöpferische Arbeit, zu der er gelegentlich kam: Von einer Stalin verherrlichenden Kantate „Das Volk als Held“ erhoffte er sich vorzeitige Entlassung. Dennoch wurde Weprik erst im September 1954, anderthalb Jahre nach Stalins Tod, wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem der KGB ihm bescheinigt hatte, sein Verfahren sei aus Mangel an Beweisen eingestellt worden. Zurück in Moskau erwartete ihn nahezu völlige Isolation. Seine Werke wurden totgeschwiegen, die Kollegen distanzierten sich von ihm, und vom Westen trennte ihn der Eiserne Vorhang. 1958 starb Alexander Weprik an den Spätfolgen der Lagerhaft.

Neuveröffentlichungen

Nachdem es lange um Weprik still gewesen war, erschienen seit Beginn des 21. Jahrhunderts mehrere seiner Klavier- und Kammermusikwerke auf CD. Die Wiederentdeckung des Komponisten ist vor allem Jascha Nemtsov zu danken, der sich heute wie damals als Pianist und Wissenschaftler für ihn einsetzt. Durch zwei Veröffentlichungen aus jüngster Zeit haben die Interessierten nun die Möglichkeit, ihre Kenntnisse über den Künstler und Menschen Alexander Weprik bedeutend zu erweitern. Zum einen handelt es sich um die erste ausschließlich Wepriks Orches­terwerken gewidmete CD, eingespielt vom BBC National Orchestra of Wales unter Christoph-Mathias Mueller und erschienen bei MDG. In sorgfältig erarbeiteten Darbietungen werden sowohl frühe Kompositionen, die seinen Namen international bekannt gemacht haben („Tänze und Lieder des Ghetto“ op. 12, Zwei symphonische Lieder op. 20, Fünf Orchesterstücke op. 17), präsentiert, als auch Nachkriegswerke, die in der Zeit der Entbehrung und Verfolgung entstanden („Pastorale“, „Zwei Poeme“). Weprik komponierte stets melodiebetont, wobei sein Ausdrucksspektrum vom lebhaften, rhythmisch und melodisch scharf umrissenen Volkstanz bis zum ruhelosen, einen thematischen Kern fort und fort variierenden Klagegesang reicht. Auch wird in sämtlichen Stücken deutlich, warum Weprik als Autorität in Sachen Instrumentation angesehen war. Insbesondere die erst nach seinem Tode publizierten Spätwerke zeigen ihn als einen Meister der klanglichen Feinabstufungen, in dessen Partituren jede Note an ihrem Platz sitzt.

Die CD steht in enger Beziehung zu der 2020 im Harrassowitz Verlag erschienenen Buchveröffentlichung „Zwischen Gewandhaus und Gulag. Alexander Weprik und sein Orchesterwerk“, die neben sechs Aufsätzen zu Leben und Schaffen Wepriks auch die Briefe umfasst, die der Komponist während seiner Europareise 1927 an Nadeshda Brjussowa, die Leiterin der Abteilung für Musikerziehung der „Glawprofobr“, richtete.

Es handelt sich zweifellos um ein wichtiges Buch, nicht nur im Bezug auf Weprik selbst. Auch die Gesellschaft, in der er wirkte, die Personen, mit denen er in Beziehung stand, erhalten durch die Texte Profil. So gibt Jascha Nemtsov einen Abriss der Geschichte jüdischer Musik im Russland des 20. Jahrhundert und beschreibt zugleich Wepriks Stellung innerhalb der Neuen Jüdischen Schule, wobei deutlich wird, dass der Komponist sich durchaus nicht in erster Linie als Mitglied einer Gruppe sah, sondern auf seine künstlerische Unabhängigkeit bedacht war. Wolfgang Mende stellt den Musikschriftsteller Weprik vor, in dessen Publizistik – als Zeichen der Restriktionen – von jüdischer Musik kaum einmal die Rede ist, und der sich in seinen Kritiken westeuropäischer Musik zunehmend einer politisch-ideologischen Diktion bediente. Wepriks Gefangenschaft wird von Inna Klause beleuchtet. Man erfährt, wie er unter widrigsten Bedingungen im Lager ein funktionierendes Musikleben aufbaute, erhält einen Eindruck vom Umfang der musikalischen Aktivitäten und von den Funktionen, die diese erfüllen sollten. Die Texte von Christoph Flamm, Igor Vorobyov und Christoph-Mathias Muel­ler widmen sich dem Komponieren Wepriks unter sozialistisch-realistischen Vorzeichen und in der erzwungenen Isolation. Die Briefe des Komponisten sind Momentaufnahmen aus dem Musikleben der 1920er-Jahre von hohem dokumentarischen Wert.

So kann man mit Freude feststellen, dass die Bedingungen für eine Beschäftigung mit Alexander Weprik und seinem Schaffen sich mit den jüngsten Veröffentlichungen um einiges gebessert haben.

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