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Titelseite der nmz 2020/06
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Es reicht nicht, nur nach vorne zu blicken

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Das Gedenkkonzert zu 75 Jahren Kriegsende war eine Verlegenheitslösung · Von Albrecht Dümling
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Beim Gedenkkonzert der Berliner Staatsoper zum 75. Jahrestag des Kriegsendes erklang nach Mozarts „Kleiner Nachtmusik“ noch Wagners „Siegfried-Idyll“, was unterschiedliche Reaktionen auslöste. rbb-Redakteur Andreas Göbel verstand in diesem Zusammenhang nicht die „naive Fröhlichkeit“ der Mozart-Serenade und Peter Uehling (Berliner Zeitung) hielt es für „schwer erträglich, den an Hitlers Kriegs- und Untergangs-Phantasmagorien nicht unbeteiligten Wagner hier als harmlosen Idyllen-Maler zu erleben“. Dagegen begrüßte Helmut Mauró (Süddeutsche Zeitung) das Fehlen großspuriger Reden, und in dem „zärtlich gebrochenen Wagner-Idyll“ vernahm er „ein ungeheures Gefühl der Hoffnung“.

Daniel Barenboim und sein Intendant Matthias Schulz hatten in einer Ankündigung die immense Bedeutung dieses Gedenktags für Deutschland und die Welt hervorgehoben und ihr Bedürfnis, den Jahrestag mit einem Gedenkkonzert aus der Staatsoper zu begehen. Besonders dankte man 3sat für die Live-Übertragung. Die beiden ausgewählten Werke stünden „symbolhaft für den Form- und Ausdrucksreichtum der klassisch-romantischen Musik und das Vertrauen auf ihre elementare Wirkungskraft“.

Auf große Reden wurde bei diesem Konzert tatsächlich verzichtet. In seiner kurzen Ansprache kam Barenboim schnell zu dem Bekenntnis: „Wir haben es vermisst zu spielen.“ Die Politik kümmere sich um die Gesundheit und die Wirtschaft, aber nicht um die Kultur. „Ich höre das Wort Kultur überhaupt nicht.“ Der Wunsch, endlich wieder live auftreten zu können, worum er die Verantwortlichen „auf den Knien“ bat, schien Barenboims eigentliches Anliegen zu sein. Das Gedenkdatum bot die Chance für einen Fernsehauftritt. Da Werke wie Brittens „War Requiem“ oder Beethovens Neunte, die für einen solchen Anlass gepasst hätten, in Corona-Zeiten wegen ihrer großen Besetzung ausfielen, hatte man nach Stücken gesucht, die auch mit nur 12 Musikern aufgeführt werden konnten. Die Not gebar diese Verlegenheitslösung.

Noch bis vor Kurzem hatte es in Berlin fast eine Inflation von Gedenkkonzerten gegeben. Zur Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren hatte Barenboim selbst am 27. Januar mit der Staatskapelle Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ und Beethovens „Eroica“ dirigiert. Das Konzerthaus und die Philharmonie hatten für den 8. Mai dagegen schon langfristig nur „normale“ Mozart- und Mahler-Aufführungen vorgesehen. Die Stadt Berlin und ihre Kulturprojekte Berlin GmbH hatten aus diesem Anlass stattdessen Begegnungen und Ausstellungen geplant. Junge Menschen aus ganz Europa und Israel sowie die letzten noch lebenden Zeitzeugen hätten zusammenkommen sollen. Die Pandemie erzwang die Absage der Begegnungen und die Digitalisierung der Ausstellung (vergleiche die Webseite  www.75jahrekriegsende.berlin). Umso größeres Gewicht erhielt nun der sehenswerte Dokumentarfilm „Berlin 1945. Tagebuch einer Großstadt“, der in beklemmenden und sonst kaum bekannten Aufnahmen den verlustreichen Endkampf und die Not der Bevölkerung vor Augen führt.

Tatsächlich ist die konkrete Information über den Kriegsalltag mindes­tens ebenso wichtig wie das feierliche Gedenken an die Toten. Ein so gewaltiges Thema wie das Kriegsende des 8. Mai 1945 ist nicht leicht in Worte und Töne zu fassen, welche heutige Hörer wirklich noch bewegen. Wie dagegen ein musikalisches Gedenken sinnvoll aussehen kann, zeigte das Video „Serenade trifft Blues“, das im Auftrag einer Hamburger Bürgerinitiative entstand. Es ersetzte ein Gedenkkonzert, das eigentlich zur Erinnerung an die Bücherverbrennung und den deutschen Einmarsch in die Niederlande am 10. Mai im Ernst Deutsch Theater Hamburg hätte stattfinden sollen. Die Pandemie führte nun zu der gelungenen Videoversion, in der nach einer Ansprache Texte der verfolgten Autoren Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Kurt Schwitters mit ansprechender Musik des aus Hamburg stammenden Exilkomponisten Ingolf Dahl und des in Auschwitz ermordeten Niederländers Dick Kattenburg kombiniert wurden.

Daniel Barenboim hatte seine Wahl der Mozart- und Wagner-Werke mit dem Vertrauen in die elementare Wirkungskraft der Musik begründet. Das Gedenken an das Kriegsende wurde bei ihm verdrängt durch den Appell an die Politik: Wir sind noch da! Angesichts von Corona suchte Barenboim die Rückkehr zur Normalität, was unabsichtlich wie die Sehnsucht nach einem Schlussstrich wirkte. Davor hatte aber der Bundespräsident anlässlich des 8. Mai energisch gewarnt: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft.“

Mit seinem Fernsehauftritt wollte Barenboim dagegen nur noch nach vorn blicken. Unter dem Sternenzelt aus Schinkels Bühnenbild zur „Zauberflöte“ beschwor er die friedliche Wirkung der klassisch-romantischen Musik, wobei die Sterne und der blaue Hintergrund den aufmerksamen Betrachter auch an die Europa-Fahne denken ließen. Auch das ist legitim – aber nicht bei einem Gedenkkonzert zum Kriegsende.

Gedenkkonzerte erfordern eine besondere Sensibilität im Umgang mit musikalischer Symbolik. Die Einbeziehung von Richard Wagner war deshalb keine gute Idee. Ein wirkliches Gedenkkonzert zu diesem Anlass und an diesem Ort hätte mehr Vorbereitung erfordert. So hätte man beispielsweise an die Geschichte der Staatsoper erinnern können, an ihre Funktion im NS-Staat und die Zerstörung des Gebäudes am 3. Februar 1945. Damals war die Staatskapelle bereits sechs Wochen nach Kriegsende wieder aufgetreten. 

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