Banner Full-Size

Freiheit ist nicht naturgegeben

Untertitel
Kunst und Meinungsfreiheit in pandemischen Zeiten
Publikationsdatum
Body

„Heine sagt sehr bissige Sachen, und seine Witze treffen ins Schwarze. Man hält ihn für von Grund auf böse, aber nichts ist falscher; sein Herz ist so gut wie seine Zunge schlecht ist.“ George Sand

Zu einem aufgeklärten Diskurs gehört die Übereinkunft, dass die Kunst nicht nur frei, sondern in ihren Deutungsebenen autonom ist. Damit ist gemeint, dass Kunst und Kultur eigene Diskurse schaffen können – und sich dabei nicht moralischen Deutungsmustern der Alltagswelt unterordnen müssen. Das folgt zwingend aus der Kunstfreiheit. So würde niemand auf die Idee kommen, dass ein Schauspieler, der in einer Film- oder Theaterrolle schlimmes tut oder sagt, im echten Leben dadurch Schuld auf sich lädt. Ebensowenig ist ein Autor, in dessen Romanen Lustmorde beschrieben werden, für diese Verbrechen verantwortlich zu machen. Als besonders subversiv galten über die Jahrhunderte Formen von Satire, spielten sie doch auf reale Zeitgenossen oder Phänomene an und zogen sie durch Übersteigerung ins Lächerliche. Die großen Satiriker der Kulturgeschichte, ob sie nun Cervantes, Swift oder Heine hießen, verbrachten oft Jahre im Gefängnis oder Exil, ähnlich wie die Vorkämpfer der Freiheitsrechte. Immer schon fühlten sich Menschen von frechen Künstlern diskreditiert oder verletzt, weil sie sich in ihrem So-Sein verunglimpft, verwirrt oder sittlich provoziert wähnten. Provokatives Potenzial entstand nicht nur aus subversiven Textinhalten. Auch die künstlerische Machart (etwa neuartige Stilmittel) oder Freizügigkeit körperlicher Darstellung rief (neben den um Autorität besorgten Machthabern) stets die Moralapostel der jeweiligen Zeit, die Beleidigten und in Folge die staatliche Zensur auf den Plan – die Motive und Gemengelage jeweils zeittypisch. Schubert, Rossini, Beethoven, Verdi, Bellini, Meyerbeer – all diese Komponisten kamen in Berührung mit staatlicher Zensur. Oskar Wilde wurde verurteilt und inhaftiert aufgrund seiner Homosexualität und geistigen Freizügigkeit. Prokofiev wurde 1948 (wie andere Künstler) von der sowjetischen Parteiführung des „westlichen Formalismus“ beschuldigt, was im Stalinismus ein Todesurteil sein konnte. Er musste als erschütternde Stellungnahme „Ich habe mich der Atonalität schuldig gemacht“ zu Protokoll geben und geloben, dass er nach einer klaren musikalischen Sprache suchen werde, „die dem Volk verständlich ist“.

Die Vorstellung des Individual-Künstlers ist eine Errungenschaft, die auf die europäische Aufklärung zurückgeht. Dahinter steckt das Ideal eines schöpferischen Einzelnen, der seinem subjektiven Gestaltungswillen Ausdruck und Form verleiht, ohne dass eine weltliche oder geistliche Macht das Kunstwerk erst erlauben oder legitimieren müsste. Solche Grundrechte, etwa auch die Freiheit der Lehre, wurden über die Jahrhunderte erkämpft gegen viele Widerstände, hart und dramatisch waren auch die Rückschläge bis hin zu ihrer Durchsetzung. Die Freiheit der Kunst genau wie die Meinungs- und Glaubensfreiheit werden in Deutschland heute vom Grundgesetz garantiert. Rechte des Künstlers sind darüber hinaus in Form von Urheberrechten und Leis­tungsschutzrechten festgeschrieben. So kommt dem in seiner Individualität machtlosen Kultur-Schöpfer sowohl künstlerische Freiheit als auch Urheberschutz zu. Das gilt auch dann, wenn seine möglicherweise radikal subjektiven Erzeugnisse konträr zu dem stehen, was eine gesellschaftliche Mehrheit gutheißt.

Doch das Modell liberaler Demokratie scheint in vielen Teilen der Welt heute zunehmend als veraltet zu gelten, als etwas, das überwunden werden muss und wird gar als Wurzel diverser Übel verleumdet. Und auch im Westen wächst die Selbst-Unsicherheit über das, was man in Deutschland als „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ bezeichnet. Gesellschaftliche Gräben reißen tiefer auf, sie lassen sich kommunikativ kaum noch überbrücken. Die Folge ist wütender, rasender Populismus verschiedener Spielarten, der in den USA etwa den fragwürdigen, selbsternannten Volkstribunen Donald Trump an die Macht brachte. Schuld daran sind nicht nur rechtspopulistische Denkweisen – es gibt auch nach eigenem Verständnis progressive Diskurse, die durch Engstirnigkeit und penetrante moralische Abwertung aller Andersdenkenden auffallen.

Wir erleben eine dramatische und gefährliche Diskurs-Verengung, die von verschiedenen Seiten ausgeht. Die Corona-Pandemie hat das nochmals sichtbarer gemacht und gleichzeitig die Situation stark zugespitzt. Natürlich ist die Corona-Zeit eine in diesen Jahrzehnten nicht gekannte Ausnahmesituation. Allein in Deutschland sind Hunderttausende Menschen erkrankt und Zehntausende gestorben, quälten sich auf Intensivstationen. Unzählige Freiberufler kamen in existentielle Not, Familien wurden geschädigt, Millionen junger Menschen in ihren Lebenszielen ausgebremst, verloren den sozialen Anschluss oder gar die psychische Gesundheit. Im Kulturbereich erleben wir ein bis heute anhaltendes erzwungenes Schweigen, was für uns als Kulturschaffende, als Lehrende und Veranstalter als größte Katastrophe seit vielen Jahrzehnten zu werten ist. Durch die Krisensituation zu erklären ist wohl das Ausmaß der Übertreibungen und die Giftigkeit in aktuellen Debatten. Ein Musiker (wie etwa der Autor dieser Zeilen), der sich beklagte, wenn ihm Konzerte verboten wurden, auch wenn es virologisch wenig einsichtig erschien, wurde dafür regelrecht niedergebrüllt und als schlechter Mensch diffamiert. Öffentliche Proteste gegen die Maßnahmen wurden leider in beträchtlichem Umfang von Extremisten und halb-verrückten Verschwörungstheoretikern okkupiert. Das machte es dann wieder leicht, Kritik in Bausch und Bogen als „extremistisch“ oder „antidemokratisch“ abzutun. Beifall von der falschen Seite galt es unbedingt zu vermeiden, obwohl das nicht demokratischem Geist entspricht. Selbst seriöse Medien beteiligten sich an dieser dürftigen Art von Auseinandersetzung und befeuerten sie mit unzähligen Meinungsartikeln.

Es besteht die Hoffnung, dass mit dem allmählichen Abflauen der Pandemie viele der spaßbefreiten, übersteigerten Hass- und Anschwärz-Debatten irgendwo im Sande verlaufen werden und dass die Leute aufhören, Menschen mit anderer Meinung grundsätzlich die schlechtesten Motive und übelsten Leumund zu unterstellen. Aber man sollte nicht naiv sein. Hinter all diesen Verwerfungen liegt eine große Dynamik. Diese Gesellschaft muss auf der Hut sein, dass Errungenschaften der Aufklärung und der liberalen Demokratie wie Meinungs- und Kunstfreiheit nicht in diesen und kommenden Turbulenzen fortgerissen werden. Nur in Kürze sollen zum Thema der Kunstfreiheit einige problematische Punkte angerissen werden:

Erstens wird Autonomie und Eigen-Existenz der Kunst immer mehr in Frage gestellt. Dabei spielt auch eine zunehmende Kulturferne in Politik und Gesellschaft eine Rolle. Vergessen scheint, dass Kunst von Vornherein nicht einer bestimmten Weltsicht zuzuordnen ist, die damit transportiert werden soll. Vielmehr steht Kunst für sich als Selbstzweck, als ein Ausdruck des Menschseins. Kunst, ganz gleich welcher Richtung, kann das kurze und begrenzte Leben des Menschen überdauern, sie steht für die Würde und Selbstbehauptung der menschlichen Phantasie und Schaffenskraft über die Begrenztheit des Lebens hinaus und ist darin im höheren Sinne zweckfrei. Die Beschäftigung damit (auch im Bildungsbereich) bedarf nicht der Rechtfertigung durch „wissenschaftliche Studien“ und dient auch nicht sui generis politisch definierten Zwecken der „Zivilgesellschaft“ und dergleichen. Natürlich lassen sich mit den Mitteln der Kunst gesellschaftliche Diskussionen anstoßen, für viele Künstler ist eine politische Perspektive auch zentral. Gut so, doch muss dies aus freien Stücken passieren. Denn Kunst ist von ihrem Wesen her unmoralisch, im Sinne davon, dass sie außerhalb der Moral steht. Sie ist auch nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen unterworfen. Heutzutage sind wir zum Teil leider soweit, dass die öffentliche Hand oder entsprechende Stiftungen bei der Mittelvergabe künstlerische oder auch kunstpädagogische Konzepte mit politischen Absichtserklärungen gleichsetzen. Doch das widerspricht der Kunstfreiheit. Kunst muss selbstherrlich und selbstvergessen für nichts anderes als sich selbst stehen dürfen, wenn sie es möchte.

Zweitens: Kunst und Kultur müssen sich heute behaupten auf dem Kampfplatz der identitätspolitischen Diskurse. Diese Diskussionen bestehen, kurz gesagt, darin, dass bestimmte Gruppen politische Forderungen aus einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit ableiten. Stoßrichtungen darunter mögen berechtigt sein, der Kampf gegen unfaire Diskriminierungen ist legitim und geboten. Doch der Stil dieses Kulturkampfes ist geprägt von abstoßendem, geradezu jakobinischem Furor. So werden Begrifflichkeiten wie Rassismus häufig auf einem niedrigen, an Äußerlichkeiten orientierten Niveau mit großer Lautstärke und Shitstorms verhandelt. Auch akademische Einlassungen zum Thema zeugen von einer gewissen Dürftigkeit, da sie weder bereit sind, den Wert eines Kunstwerkes vom So-Sein seines Schöpfers zu trennen, noch in der Lage sind, in Zusammenhängen historischer Bedingtheit zu denken. Zum Glück ist die kulturelle Praxis anders: Zum Beispiel wird heute im Jazz-Bereich kaum jemand einfordern, dass nur Schwarze diese Musik spielen dürfen. Und das Interessante beim Jazz liegt ja gerade darin, dass eine vitale Fusion vieler Kulturen entstanden ist, die offen zu allen Seiten ist. Ideenreiche Musik schöpft fast immer aus Vielfalt unterschiedlicher Stilwelten, und das ist keine „kulturelle Vereinnahmung“, sondern entspricht dem Wesen von Kultur. Ein Gustav Mahler verbindet in seinen gewaltigen Sinfonien unterschiedlichste Einflüsse, eingeflossen sind neben seiner Liebe zu Märschen und volkstümlichen Ländlern die Modelle Bruckner’cher Sinfonik, üppigstem spätromantischem Herzschmerz und Überschwang. Ähnliches lässt sich für Mozart, Dvorák, Strawinsky, Ligeti und wohl die meisten anderen Komponisten sagen. Offenheit und Freiheit, ein großes „Sowohl als auch“ machen in aller Regel die große Kunst aus und nicht die identitäre Abgrenzung und damit verknüpftes Schubladen-Denken. Diese Einsicht gilt es zu verteidigen.

Drittens: In der Pandemie sind Kunst und Kultur im Vergleich zu anderen Bereichen auf objektiv besonders starke und unfaire Art belastet worden. Die Kulturschaffenden, die Lehrenden haben dies in der großen Masse klaglos mitgetragen. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass es nach der Pandemie ein „Zurück“ gibt. Vielerorts sind die Kassen leer, manches Kulturangebot dürfte nach der Pandemie keine Fortsetzung mehr finden, wo „es doch auch ohne ging“. Kunst und Kultur müssen hier unbedingt selbstbewusst auftreten und dürfen sich auch nicht davon beirren lassen, in der öffentlichen Wahrnehmung von den Moralaposteln als unverschämt oder frech angefeindet zu werden.

Viertens: Ein wichtiges Zeit-Phänomen ist auch eine allgemeine Virtualisierung der Realitätswahrnehmung. Die echte Realität ist unübersichtlich und widersprüchlich, doch in Form von quantitativen Studien mit vielen grafischen Schaubildern aufbereitet, verliert sie ihren medusenhäuptigen Schrecken. In der Computerwelt erleben wir die Realität zunehmend im Biedermeier kästchenartiger „Frames“ mit voreingestellten Settings. Wir sollten uns hüten davor, dass der Kultur das gleiche passiert. Kulturevents sollten auch weiterhin eine Live-Begegnung im Hier und Jetzt beinhalten und sich der technisch-medialen Formatierung entziehen. Das gilt auch für den Musikunterricht. Ein Austausch in voller Einzigartigkeit des gemeinsamen Jetzt-Moments ist das, was Kultur im Innersten ausmacht und weiterbringt. Die Digitalisierung wird das Kulturleben weiter verändern und neben negativen auch positive Impulse bringen, aber wir dürfen uns nicht allein dem nivellierend-statistischen Quantitätsdenken und der Mittelbarkeit technischer Gegebenheiten überlassen.

Die Freiheit von Kunst und Kultur ist nicht naturgegeben. Freiheit und Grundrechte sind zentrale Errungenschaften der Zivilisation, die in der Kultur- und Geistesgeschichte wurzeln und nicht etwa durch naturwissenschaftliche „Studien“ begründbar sind. Auch die Freiheit der Wissenschaft gründet sich in diesen individuellen Freiheitsrechten, sie wurden kulturell formuliert und erkämpft. Und natürlich sind die Künstler im Rahmen ihres Freiheitsstrebens immer wieder „angeeckt“ (um es im modernen Sprachgebrauch zu sagen). Verblüffend, wie zeitlos und aktuell Werke von Heinrich Heine heute noch wirken, gerade auch in ihren ironisch-subversiven Momenten. Auch wenn es in manchen verfahrenen, polarisierten Debatten der Gegenwart wieder schwer geworden ist, die richtigen Worte zu finden: Der Freiheitsgedanke, dem Heine sein Lebenswerk gewidmet hat, sollte für uns Kulturschaffende und -lehrende zentral bleiben. Alles andere wird sich rächen.
 

 

Print-Rubriken
Unterrubrik