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Theodor W. Adorno (li.) zu Gast bei Josef Anton Riedl im Siemens Studio für elektronische Musik München. Foto: Karsten de Riese
Theodor W. Adorno (li.) zu Gast bei Josef Anton Riedl im Siemens Studio für elektronische Musik München. Foto: Karsten de Riese
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Für eine befreite Musik

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Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno · Von Hans-Jürgen Schaal
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In den Büchern des Musikphilosophen Theodor (Wiesengrund) Adorno (1903–1969) geht es viel um Kritik und Negation. In seinem Vortrag „Vers une musique informelle“ von 1961 hat er dagegen ganz positiv seinen Traum einer befreiten Musik beschrieben. Eingepflanzt wurde ihm dieser Traum schon in seiner Jugend.

Früh fand er seinen Leitstern – es war der Komponist Arnold Schönberg. Dessen Musik hatte Adorno erstmals Ende 1918 kennengelernt. Damals hörte der 15-jährige Schüler im Konzert in seiner Heimatstadt Frankfurt das fis-Moll-Quartett (op. 10) und fand darin, so schrieb er damals, „ein Ziel musikalischen Schöpfertums verwirklicht, das ich schon als Kind dunkel gefühlt [hatte]“. Innerhalb von zwei Jahren erarbeitete er sich fast das gesamte bis dahin bekannte Werk des Wiener Komponisten. Den „Pierrot Lunaire“ (op. 21) hielt er als Jugendlicher „trotz Mahler“ für die größte Tat neuer Musik. Auch die Drei Klavierstücke (op. 11), die Fünf Stücke für Orchester (op. 16), das Monodram „Erwartung“ (op. 17), das Drama „Die glückliche Hand“ (op. 18), die Sechs kleinen Klavierstücke (op. 19), das Lied „Herzgewächse“ (op. 20) und die Vier Orchesterlieder (op. 22) führte Adorno später immer wieder als Schönbergs größte Leistungen an. Alle diese Werke entstanden zwischen 1908 und 1916 – in Schönbergs Phase früher, freier Atonalität.

Die jugendliche Begeisterung für Schönberg prägte Adorno fürs ganze Leben. In seinem Buch „Philosophie der neuen Musik“ (1949) verrät er, wie er Schönbergs frei-atonale Werke empfunden hat: als eine „Reinigung der Musik von den Konventionen“. Die Möglichkeiten seien nun unbeschränkt, formale Prinzipien der Tonalität – Thema, Durchführung, Harmonik, Melodie – spielten keine Rolle mehr. Stattdessen werde die Musik nun zusammengehalten durch ihre eigene Gestik und Dynamik, durch ein organisches, entwickelndes Variieren, bei dem eines das nächste aus sich hervorbringt. Der Komponist Mathias Spahlinger beschreibt Schönbergs frei-atonalen Stil ganz entsprechend als „ein energetisches Ineinander und Durcheinander von Steigerung, Milderung, Aufbruch, Abbruch, Auflösung, Kontrast, Schock [...].“ Schönberg selbst sprach davon, er folge beim frei-atonalen Komponieren dem „Triebleben der Klänge“ – oder in Adornos Worten (1949): Der Komponist „treibt geschlossenen Auges, wohin Ton um Ton ihn drängt.“

Wiener Traum, Wiener Realität

Von klein auf hat Adorno auch selbst komponiert. Nach der ersten Begegnung mit Schönbergs Werk geriet der Jugendliche als Komponist verständlicherweise in „völlige Abhängigkeit“ von Schönbergs frei-atonalem Stil. Mit 17 Jahren meinte er selbstkritisch: „Ich schrieb ein Quartett, Lieder, Klavierstücke, die als Eigenwerte nicht in Betracht kommen. Die Menschen, denen ich sie zeigte, warfen mir Schönberg-Plagiat vor – und mit Recht.“ Doch mit seinen Sechs Studien für Streichquartett (1920) glaubte der junge Adorno, nun eine eigene Stimme als Komponist gefunden zu haben. Auf Anraten seines Kompositionslehrers Bernhard Sekles (1872–1934) schickte er die Partitur des Werks nach Wien zu Schönberg und hoffte (vergebens) auf Anerkennung. Drei Jahre später lernte er in Frankfurt den Komponisten Alban Berg kennen, Schönbergs wichtigsten Schüler. Adorno fragte ihn, ob er bei ihm in Wien Unterricht nehmen dürfe. Es zog ihn mit Macht in die Nähe seines Leitsterns Schönberg.

Als er endlich nach Wien kam, 1925, frisch promoviert, erlebte Adorno eine herbe Enttäuschung. Sekles hatte ihn schon vorgewarnt: Die freie Atonalität sei dort längst wieder „passé“, sagte er. Schönberg und seine Schüler hatten sie nämlich durch ein neues Regelwerk ersetzt, das strenger war als jedes System der tonalen Musik: die Zwölftonmethode. Der 21-jährige Adorno war schockiert, dass die gerade erst gefundene Freiheit der Musik, die ihm alles bedeutete, kurzerhand einfach wieder abgeschafft worden war. Schönberg und Co. schlugen sich stattdessen mit den strikten Zwölftonregeln herum, sie bemühten auch Sonate, Suite, Rondo, Variation, Krebs, Umkehrung und so weiter – all die Formalismen, die durch die Atonalität überwunden schienen. Man erklärte Adorno, die Zwölftonreihe sei notwendig, um echte Atonalität zu garantieren. Umfangreiche atonale Werke seien ohne Ordnungsregeln nicht denkbar. In Adorno muss sich alles dagegen gesträubt haben.

Das entzauberte Idol

Im April 1925 kam es in Wien zur ers-ten persönlichen Begegnung zwischen Adorno und seinem Idol. „Schönberg entsann sich bei der Nennung meines Namens sofort, dass ich ihm einmal etwas geschickt [hatte]“, berichtete Adorno, „und sprach dann mit mir, wie etwa Napoleon mit einem jungen Adjutanten sprechen mag.“ Dass Schönbergs „Adjutant“ der neuen Zwölftonmethode skeptisch gegenüber stand, machte die Sache nicht einfacher. Adorno erlebte sein Idol als fanatisch und paranoid, unzugänglich für Diskussionen und Argumente. Schönberg wiederum fand den jungen Mann aus Frankfurt aufdringlich, überheblich und besserwisserisch. Er lehnte sowohl die Schriften wie die Kompositionen Adornos ab – und dieser litt darunter, dass „der Mensch, auf den ich am meisten rechnete, sich gegen mich stellt“. Über Jahrzehnte hinweg hat Schönberg sich gegen Ador­no gewehrt und einen wahren „Wiesengrund-Komplex“ (so Adorno­) entwickelt. Schönbergs Abneigung gegen ihn war die große Tragik in Adornos Leben – und stoppte seine Karriere als Komponist.

In seinen Schriften hat Adorno vielfach ausgeführt, dass er die Zwölftonmethode für einen Irrweg hielt. „Es ist nicht einzusehen, warum eine jede [..] Grundgestalt alle zwölf Töne [...] enthalten soll [...], ohne einen öfters zu bringen“, schrieb er. Der Zwang des Reihensystems, den er mit Astrologie und Aberglauben verglich, verwehre die „Konstruktion wahrhaft freier [...] Formen“ und degradiere den Komponisten zum „Sklaven des Materials“. Das Zwölfton-Werk nannte er eine „stählerne Apparatur“ – statisch, durchfunktionalisiert, durchkonstruiert, integral, technisch. Insbesondere wies er darauf hin, dass die Spannung zur tonalen Tradition, die in der freien Atonalität stets mitklinge, bei der Zwölftonmethode wegrationalisiert sei. Der Unterschied von Konsonanz und Dissonanz löse sich im Reihensystem auf, die Ausdrucksqualität der Intervalle gehe verloren. „Die Dissonanzen werden [...] bloße Quanten, qualitätslos, differenzlos und darum überall einzupassen, wo das Schema es verlangt. [...] Es gibt kein anarchisches Zueinanderwollen der Klänge mehr, bloß ihre monadische Beziehungslosigkeit und die planende Herrschaft über alle.“

Dagegen hat Adorno 1961 seine persönliche Vorstellung von „unrevidierter, konzessionsloser Freiheit“ in der Musik dargelegt. Sein Text „Vers une musique informelle“ entstand auch in Abgrenzung zu damals aktuellen Strömungen des Musiklebens. Adorno nennt sein Konzept „informelle Musik“ – eine Musik, die „alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat“ und ihre Stringenz in jedem Stück neu aus sich selbst frei entwickelt. Eine solche Musik brauche keine Kategorien mehr wie Vor- und Nachsatz oder Spannungs- und Auflösungsfeld. Das Thematische müsse auch nicht in der Melodie liegen, sondern könne zum Beispiel Klang, Dynamik, Rhythmus sein – oder ganz verzichtbar.

Adorno sieht „unendlich viele Organisationsmöglichkeiten“ für Musik, ganz ohne vorgeschaltete Formen und Systeme. Es war ihm dabei durchaus bewusst, dass sein „informelles“ Musikkonzept an der frei-atonalen Phase Schönbergs orientiert war und er sich hier quasi an die eigene Jugend klammerte. „Die Perspektive auf solche informelle Musik war schon einmal offen, um 1910“, schreibt er.

Eine informelle Musik

Informelle Musik, so schwebt es Adorno vor, entwickelt sich kompositorisch von einem musikalischen Moment zum anderen und bringt bei ihrer Entstehung ihre eigene Form und Einheit hervor – sie produziert selbst ihren Sinn und Zusammenhang. Der Komponist hat sich dabei in das von Schönberg so genannte „Triebleben der Klänge“ einzufühlen. Adorno nennt dieses assoziative Komponieren „organisch“, „spontan“ und „fließend“. Anstelle einer vorgegebenen, äußerlichen Form wächst das Stück wie ein Lebewesen – aus einer „Fiber“. Adorno schreibt: „Nur was unmittelbar sich berührt, wirkt, als wüchse es. [...] Verhältnisse zwischen unmittelbar und mittelbar Aufeinanderfolgendem [...] wären herzustellen, die von sich aus Stringenz stiften. [...] Der Verlauf muss leisten, was einmal thematische Arbeit leistete. [...] Der Sinn des Kunstwerks ist ein erst Herzustellendes, nicht ein Abzubildendes; er ist, was er ist, einzig, indem er wird. Das ist das Moment von Aktion an informeller Musik.“

Der Zwölfton-Ketzer

Das „Informelle“ hat Adorno auch in seinen philosophischen Texten beherzigt. Seine Essays entwickeln sich quasi osmotisch, amöbenhaft beweglich, dem Eigenleben der Gedanken folgend. Jeder Satz ist dem Zentrum gleich nahe. Als Komponist aber hat Adorno resigniert – der Konflikt mit Schönberg muss ihn schockiert und gelähmt haben.

Seine vielleicht wichtigste erhaltene Komposition sind die Zwei Stücke für Streichquartett (op. 2), die er unter Alban Bergs Anleitung schrieb. Berg erwartete, dass er sich dabei an der damals noch neuen Zwölftontechnik versuchte. Adorno tat es auf seine Weise – und verstieß bewusst gegen die Regeln. Im ersten Stück (1926) verwendet er zwar ein Zwölftonthema, doch die Töne wechseln immer mal die Position in der Reihe oder bilden Untergruppen, und die Reihe „versteckt“ sich häufig auch in Komplementär-Harmonien. Mathias Spahlinger meint, Adorno habe die Zwölftonmethode „nie anders als in einem ketzerischen Sinn gebraucht“. Überwiegend entwickelt sich das Stück in freier, assoziativer Weise. Nichts wird exakt wiederholt, eine musikalische Gesteergibt sich aus der vorigen – in permanenter Variation. Organisch, fibrös, spontan, informell.

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