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Bermbach, Udo: Houston Stewart Chamberlain – Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. 628 S., zahlr. S-W-Abb. Metzler Verlag Stuttgart 2015. € 39,95 – ISBN 978-3-476-02565-4
Bermbach, Udo: Houston Stewart Chamberlain – Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. 628 S., zahlr. S-W-Abb. Metzler Verlag Stuttgart 2015. € 39,95 – ISBN 978-3-476-02565-4
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Geistiges Bindeglied des Ungeistes

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Die Rolle von Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain. Das Lebens-, Schaffens- und Charakterbild des England-Deutschen Houston Stuart Chamberlain (1855–1927), das der Politikwissenschaftler und Wagner-Experte Udo Bermbach auf über 600 Seiten geschaffen hat, könnte kompakt lauten: „Höchst beachtlich und hochproblematisch“.

Der Neffe des britischen „Appeasement“-Außenministers ließ sich nach zunächst gesundheitlich bedingten Aufenthalten, natur- und geisteswissenschaftlichen Studien sowie deutschsprachigen Veröffentlichungen, dann aber vor allem aufgrund philosophisch-kultureller Einsichten 1916 (!) eindeutschen. Da war der sprachlich polyglotte, gut Klavier spielende, öffentlichkeitsscheue, eminent gebildete Privatgelehrte speziell durch seinen 1899 erschienenen und x-fach wieder aufgelegten Weltbestseller „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, aber auch sein maßgebendes Wagner-Buch (1895) sowie durch profunde Bücher über Kant (1905) und Goethe (1912) schon eine geistige Größe im europäischen Raum.

So stand er seit Mitte der 1880er Jahre in regem Briefverkehr mit der kulturpolitisch höchst einflussreichen Cosima Wagner. Nach Aufenthalten in Dresden und Wien heiratete er 1908 in zweiter Ehe die Wagner-Tochter Eva, bezog mit ihr ein gegenüber Wagners „Wahnfried“ liegendes Haus und wurde zur intellektuellen Speerspitze des „Bayreuther Gedankens“, den Bermbach exzellent in seinem Buch „Wagner in Deutschland“ dargestellt hat - vereinfacht: Kunst und Kultur als zentrale Basis der Gesellschaft und des Staates. Seit 1914 zunehmend schwer an Parkinson erkrankt und bald ans Bett gefesselt, war Chamberlain speziell durch seine „Kriegsschriften“ einer der deutschnationalen und völkischen Meinungsführer. In den letzten Jahren artikulationsunfähig, hielt er dennoch sein Lesepensum hoch und erkämpfte sich anhaltende Kommunikation: durch Lippenablesen und „Augen-Diktate“.

Er war als geistige Persönlichkeit noch so präsent, dass 1923 Adolf Hitler ihn zweimal am Krankenbett besuchte. Als Chamberlain wohl mit „erlösender“ ärztlicher Hilfe am 9.Januar 1927 starb, riss die fränkische NS-Führung seine Beisetzung gegen den Willen der Familie Wagner und der Bayreuther Stadtführung brachial an sich: Chamberlain wurde endgültig zu einem der Ahnväter der NS-Bewegung stilisiert und – wie Bermbach belegt unter drastischer „Komplexitätsreduktion“ – „zurecht-interpretiert“. Damit war Chamberlain nach 1945 grundlegend diskreditiert und intellektuell „erledigt“.

Der Leser muss dem Ideengeschichtler Bermbach zunächst dankbar sein: er erspart ihm Meter und Tonnen unsäglicher Bücher zu „Rassismus“, „Antisemitismus“, „völkisch-“ sowie „deutsch-nationalem“ und „antidemokratischem“ Denken samt daraus abgeleitetem horriblen Kulturverständnis. Bermbach belegt in flüssigem, gut lesbarem Stil mit vielen eingebauten Zitaten, wie Chamberlain enormes, breit gefächertes Wissen erwirbt, aber in einer Ablehnung von „Amerika 1776“ und „Frankreich 1789“ in eine mit den obigen Kernbegriffen umrissene Weltanschauung findet – dies leider inmitten zahlreicher ähnlich gesinnter Köpfe der damaligen Eliten.

Chamberlains zunehmend aggressiver Antisemitismus wird aber nie eliminatorisch: auch wenn er an die damals dominierenden Rasse-Theorien anknüpft, plädiert er nie für Vertreibung oder Vernichtung; gezielte Eingliederung und Berufsverbote stehen nebeneinander. Sein „Grundlagen“-Bestseller eliminiert eher alle reale Politik – und macht seine einseitigen Aussagen so leicht „anschlussfähig“ für die - in einer technisch-industriellen Umbruchszeit - gesellschaftlich und geistig verunsicherten „gebildeten Kreise“.

Das gilt dann auch speziell für sein Wagner-Buch: Chamberlain verfälscht Wagners linke Revolutionsorientierung, die dementsprechende zentrale Bedeutung der „Züricher Kunstschriften“ und stellt den absoluten, ohne jede politische Gesinnung „reinen“ Künstler in den Vordergrund. Bermbach führt glänzend vor, wie genau dies eine „neue (Re-)Politisierung“ ermöglichte, „die im Bayreuther Umfeld unter dem Einfluss von Cosima und ihren Vertrauten nur von rechts kommen konnte“ - und wie diese Zurechtbiegung zum Nationalkomponisten Wagner führte, sodann dessen Vereinnahmung als – fundamental verfälschter – „Staatskünstler“ durch die braunen Kulturbarbaren möglich machte. Chamberlains fatale Bindeglied-Rolle wird deutlich, da seine Sichtweise Wagners auch durch die damals eminent wichtigen „Bayreuther Blätter“ offiziöse Bedeutung bekam und weite Verbreitung fand.

Dieser Einseitigkeit stehen die intellektuell bestechenden Bücher Chamberlains über Kant und Goethe gegenüber. Seine tiefe Religiosität – ein radikaler Gegensatz zu allen Theoretikern und Realpolitikern des Nationalsozialismus – lässt ihn über einen „arischen Jesus“ schreiben und bei aller Kritik an „Rom“ die zivilisatorische Leistung des Christentums darstellen. Da fällt wiederholt der Begriff der „Milde“, auch bezüglich der „Judenfrage“ – und dem stehen dann wieder im 700-Seiten starken Goethe-Buch, anknüpfend an dessen gelegentliche antijüdische Äußerungen, acht Seiten hasserfüllter Antisemitismus gegenüber.

Bermbach belegt, dass Chamberlain hier auch publizistischen Widerspruch erfährt. Doch seine Leben und Wirken flüssig verbindende Analyse macht deutlich, dass Chamberlain damals virulente Strömungen sprachlich und intellektuell beeindruckend bündelte und unterstützte, die den Eliten den Weg ins Jahr 1933 geistig ebnete. Der Rahmen des wohl von nun an maßgeblichen Buches über Chamberlain wäre gesprengt worden, hätte Bermbach über seine den Band durchziehenden Widerlegungen und Negativurteile hinaus noch verstärkt Gegner Chamberlains zu Wort kommen lassen. So bleibt als kulturpolitisch aktuelle Einsicht, dass auch derzeitige Führungs- und Funktionseliten von uns daran zu messen sind, ob ihre Äußerungen in eine liberale und demokratische Zukunft weisen. Wolf-Dieter Peter

  • Bermbach, Udo: Houston Stewart Chamberlain – Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker. 628 S., zahlr. S-W-Abb. Metzler Verlag Stuttgart 2015. € 39,95 – ISBN 978-3-476-02565-4

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