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Der Interpret: Márta und György Kurtág spielen „Jatékók“.
Der Interpret: Márta und György Kurtág spielen „Jatékók“.
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Genauigkeit und die Liebe zum Einzelnen

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Der ungarische Komponist György Kurtág in Weingarten
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Immer wieder kommt man gerne in das nahe des Bodensees gelegene Örtchen Weingarten, wenn man einen Komponisten gründlich und perspektivenreich kennen lernen will. John Cage war schon vor mehr als 15 Jahren hier, Helmut Lachenmann, Dieter Schnebel, Karlheinz Stockhausen, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Adriana Hölszky und manch andere folgten. Der 1926 geborene Ungar György Kurtág, einer der ganz großen Zeitgenossen mit völlig neuen Ausblicken, was heute Denken in Musik heißen kann, war da im Grunde schon überfällig.

Die Idee, einen Komponisten ausschließlich ins Zentrum der Programme zu rücken, ihn dazu über ein wissenschaftliches Referat (diesmal mit griffiger Eloquenz und genauen Beobachtungen: Reinhard Brembeck) und eigene Erörterungen des Werks vorzustellen, hat sich als Erfolgsgarant erwiesen und wird seit dem Cage-Jahr 1987 verfolgt. Der Ort lässt nur wenig Entkommen zu, und so trifft man sich abends im Wirtshaus wiederum mit dem Komponisten und den Musikern. Und die Menschen hier haben oft andere Fragen an sie, als sie in Fachkreisen gestellt würden. Es mögen bescheidene Anfragen sein, in erster Linie sind es erfrischende. Viel zu lange schon hat sich Neue Musik hinter den Luftblasen eines vorgeblichen Fachjargons versteckt.

„Energie ist für mich Reserve von Kraft“, sagte Kurtág bei einer Übungsstunde mit jungen Klavierschülerinnen, die zusammen mit der Pädagogin Gabriele Stenger-Stein Stücke von Kurtág erarbeiteten. Das ist ein lapidarer Satz, lässt man ihn aber wirken, dann wertet er auf einmal Vieles um, was als musikalisches Selbstverständnis gilt. „Mein Erzfeind ist die Dynamik“, ergänzte Kurtág und er wollte damit sagen, dass klangliche Wucht nicht in Phon zu messen ist. Hunde, die bellen, beißen nicht – und wirklich mag lautes Dröhnen wie Klappern wirken, während einen die Energie eines stillen Tons, ja einer Pause zu Boden schmettern mag. Aber wie erzeugt man solche Energien oder Kraftpole? Dieser Frage ging Kurtág seit gut vierzig Jahren nach, als er im Alter von 33 Jahren nach einer großen Reihe von Kompositionen noch einmal mit der Opuszahl 1 begann. Und seither haben sich die Ergebnisse in ständiger Sublimierung verdichtet. Das mag man ablesen an zwei Liederzyklen Kurtágs, die in Weingarten erklangen. Im Grunde gab es die romantische Form des Liederzyklus’ im 20. Jahrhundert nicht mehr. Andere ästhetische Prämissen hatten sie getilgt. Bei Kurtág aber wirkt es so, als sei das Reservoir dieser Form unerschöpflich. Freilich erzählen die zwischen 1985 und 1987 entstandenen „Kafka-Fragmente“ für Sopran und Violine (Anna Maria Pammer, András Keller) oder die Beckett-Vertonungen „…pas à pas – nulle part…“ für Bariton, Streichtrio und Schlagzeug keine Geschichte mehr. Fortgeschrieben wird Schuberts Idee der Winterreise, also das Durchwandern eines Lebensgefühls in immer neuen Facetten.

Kurtág ist hier genau wie kein zweiter Komponist der Gegenwart. Jeder Ton trägt Bedeutung und droht an dieser Last aus den Nähten zu platzen. Botschaften, geflüstert, verschlüsselt oder wie auf kleinem Zettel weitergereicht künden von elementaren Ereignissen. Wer solches schöpferisch unterfängt, muss über äußerste Genauigkeit, Liebe zum Einzelnen, vor allem aber über die Sensibilität des intensiven Erfassens und Wiedergebens verfügen. Aus dem Schwung eines Mundes, dem Leuchten der Augen, dem Klang der Stimme lässt sich für den, der genau und verstehend beobachtet, ein ganzes Schicksal ablesen. Das verlangt, trotz einer häufig scheinbar einfachen Kontur des Notentextes, Ungeheuerliches vom Interpreten. Lang, quälend lang lässt Kurtág immer wieder einen einzigen Ton probieren, bis die Gestaltung seiner Intention nahe kommt. Und bei diesem Probieren, bei den Erläuterungen des Komponisten, tut sich ein ganzes Universum auf, das sich hinter dem unschuldigen Ton verbirgt. Es geht um die Geste der Ausführung, um Spannung und Entspannung, um eingeschriebene Energien. Und manchmal verweist Kurtág auf eine ganze Passage aus einer Sinfonie oder einer Oper, um die Bedeutungsschwere dieses Tons zu umreißen.

Für Kurtág gebührt solche bis zum Letzten gehende Intensität jedem großen Werk der Musikgeschichte und er widersetzt sich hiermit den laxen Auffassungen, die mit heutigen Interpretationspraktiken einhergehen. Der Lohn ist unermesslich: für den Interpreten, für den Hörer.

Denn es gilt musikalische Potenzen des Ausdrucks zu erfühlen, die unsere Oberflächlichkeit längst vergessen ließ. Ausdruck aber ist die Seele seiner Musik. Er ist unendlich verletzlich, dies aber macht zugleich seine Stärke aus. Gelingen kann er nur, wenn die Musiker sich ihm schutzlos ausliefern. Besonders in den charakterlich überbordenden Beckett-Gesängen (von der Zitat-Farce bis zu Schrei und Gelächter) mit Kurt Widmer, Hiromi Kikuchi, Ken Hakli, Stephan Metz und Mircea Ardeleanu, alle engst vertraut mit Kurtágs Ansprüchen, ereignete sich, was man von Musik kaum mehr erwartet: alle, Ausführende wie Hörer, wurden beschenkt.

Das Wochenende wurde durch einen Vortragsabend von Márta und György Kurtág zu einem weiteren Höhepunkt geführt. Sie spielten, wie immer überragend eindringlich, Stücke aus Jatékók und überirdisch schöne Bach-Bearbeitungen Kurtágs.

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