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Blick auf die Bühne des neuen Konzertsaals. Foto: OSI / D. Vass
Blick auf die Bühne des neuen Konzertsaals. Foto: OSI / D. Vass
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Gesunder urbanistischer Wahnsinn

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Der neue Konzertsaal in Lugano steht für Aufbruch und Öffnung
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Mitte September 2015 wurde in Lugano das Kulturzentrum LAC (Lugano arte cultura) eröffnet. Mit einer Reihe glanzvoller Aufführungen ist sein Konzertsaal inzwischen akustisch und musikalisch in Besitz genommen worden.

Im Tessin hat man es verstanden, eine einzigartige Chance zu nützen. Das eben eröffnete Kulturzentrum von Lugano bedeutet eine Zäsur in der urbanen Entwicklung der Stadt. „Es gibt ein Lugano vor und ein Lugano nach dem LAC“, so urteilte ein Kenner aus dem benachbarten Mailand. Dabei fasste er den städtebaulichen Aspekt ins Auge. Das Gebäude öffnet sich zum See und umschließt, zusammen mit dem nun als Wohnhaus genutzten ehemaligen Hotel Palace – einem Wahrzeichen Luganos – die nunmehr größte „piazza“ der Stadt.

Provozierender architektonischer Akzent

Der heute siebzigjährige Tessiner Architekt Ivano Gianola, für dessen Projekt man sich 2001 aus 130 Mitbewerbern entschieden hatte, sagt im Gespräch, er habe sich von „gesundem urbanistischem Wahnsinn“ leiten lassen. Mit der scharfen Fassadenkante des in grünen Marmor gekleideten, keilartigen Museumstrakts hat er einen provozierenden Akzent gesetzt. Kunst ist, so möchte man ihn interpretieren, nicht bloß ein x-beliebiges Event von Unterhaltung und Vergnügungen, sondern auch „Einschnitt“,  das heißt Erfahrung und „Erkenntnis des Schmerzes“ (Carlo Gadda).

Zunächst aber signalisieren das Kulturzentrum und seine Architektur, dass hier verschiedene Disziplinen zusammengeführt werden. Die gleichsam durchlässige Rückwand der Anlage bildet die spektakuläre, 18 Meter hohe Eingangshalle. Aus ihr werden die fünf Geschosse des neuen Kunstmuseums – ein Zusammenschluss des kantonalen Museo d’arte mit dem städtischen Kunsthaus – sowie der auf tausend Plätze angelegte modulare Saal für Konzert, Oper und Schauspiel erreicht.

Die Bedeutung der neuen Institution reicht weit über die städtischen Belange hinaus. Mit ihr ist ein unübersehbares Zeichen für all das gesetzt, was in der kulturellen Lebenswelt von Lugano – einer Stadt von 70.000 Einwohnern – und innerhalb des Tessins insgesamt während der letzten Jahrzehnte erarbeitet wurde. Rückblickend kann man von Glück reden, dass die Stunde genutzt wurde, den Bau des Kulturzentrums auf den Weg zu bringen. Heute hätte ein solches Projekt von rund 210 Millionen Franken kaum Chancen. Die Ressourcen der öffentlichen Hand haben sich verknappt, nicht zuletzt wegen der geringeren Steuererträge aus dem Bankengeschäft. 

Aufbruch und Öffnung

Nun gilt es, das prächtige Gehäuse mit künstlerischen Leistungen zu erfüllen. Das neue Kunstmuseum thematisierte mit einer Ausstellung zur europäischen Kunst zwischen 1840 und 1960 die Leitidee des Kulturzentrums, sich als Kreuzpunkt auf der Achse Nord–Süd zu verstehen. Im szenischen Bereich (Schauspiel/Tanz, Leitung Carmelo Rifici) hat die angestrebte Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Ensembles, wie etwa dem Mailänder „Piccolo Teatro“, zu ers­ten Erfolgen geführt. Auch die Truppe des tessiner Theatermanns Daniele Finzi Pasca, weltbekannt durch seine Inszenierungen bei den Olympischen Spielen, ist als „compagnia residente“ fest an das Haus gebunden.

Bereits im Vorfeld führte das hochgemute Unternehmen zu Aufbruch und Öffnung. Für die Gesamtleitung der Institution hat man sich vor drei Jahren den Kanadier Michel Gagnon, einen ausgewiesenen Kulturmanager aus Montréal, nach Lugano geholt. Neue Erfahrungen sind auch im musikalischen Bereich gefragt. Als Verantwortlicher für die klassische Musik wirkt seit 2014 Etienne Reymond, der aus der Intendanz der Tonhalle Zürich zum Leitungs-Team gestoßen ist. Und mit der Eröffnung des LAC gab Markus Poschner seinen Einstand als Chefdirigent des Orchestra della Svizzera italiana (OSI). Der gebürtige Münchner (1971), seit 2007 noch GMD in Bremen, wird ab 2017/18 auch die Nachfolge von Dennis Russel Davies in Linz antreten.

Exzellente Akustik

Das A und O für Anziehungskraft und Prominenz eines Konzertraums bildet seine Akustik. Während der Schluss­phase des Baus hielt die Frage, ob die hoch gesetzten Erwartungen erfüllt würden, die Verantwortlichen wie die Melomanen der ganzen Region in Spannung. Man hatte sich dem Akustik-Ingenieur Jürgen Reinhold von der Münchner Firma Müller BBM anvertraut, dessen Erfahrung und Können sich an den restaurierten oder neu erbauten Opernhäusern von Neapel über Florenz bis Venedig und Turin überprüfen ließen. Die ersten Konzerte machten es klar: Die Partie ist gewonnen. Die Sala Teatro, so die offizielle Bezeichnung des Saals, hat den Vergleich mit renommierten Kollegen, etwa dem KKL an der Luzerner Bucht, keineswegs zu scheuen. „Einer der schönsten und akustisch besten unter den neueren Konzertsälen“, so das Urteil von Frank Peter Zimmermann, der den ambitionierten Brahms-Zyklus des Orchestra della Svizzera italiana mit dem Violinkonzert eröffnete.

Den Zyklus „Rileggendo Brahms/ Rereading Brahms“ hat Denise Fedeli, Intendantin des Orchesters, zusammen mit dem Chefdirigenten langfris-tig vorbereitet. Sogar „historische“ Pauken ließ man anfertigen, denen ein Instrument von 1881 Modell stand, der grossen Zeit des Meininger Orchesters, mit dem Johannes Brahms als Komponist und Dirigent über Jahrzehnte hinweg eng verbunden war. Poschner – er steht mit den Instituten der musikwissenschaftlichen Brahmsforschung von Lübeck und Kiel in Kontakt – orientiert sich an den damaligen Aufführungspraktiken und Klangvorstellungen,  jedoch ohne dabei spontanes Musizieren zu opfern. Auf seinem Weg zu einem authentischeren Klangbild der Brahms’schen Partituren verfügt er in Lugano mit dem grossbesetzten Kammerorchester über eine ideale Ausgangslage. Gleich in der Einleitung des Eröffnungssatzes der ersten Symphonie wies das ausdrucksstarke, aber schlanke Klangbild die Richtung, in der sich seine Brahms-Interpretation bewegt.

Ansporn und Begeisterung

Poschner überzeugt auch als Orchestererzieher. Die Musikerinnen und Musiker der OSI, jetzt als „orchestra residente“ des LAC, nützten die optimalen akustischen Bedingungen. Solch zurückgenommene, tragende Piani waren von den Streichern bislang nie zu hören, die vorzüglichen Bläser steigerten ihre Präsenz im Raum und blieben dennoch in den Gesamtklang eingebunden. Mit Anbruch der LAC-Ära ist ein Quantensprung in der gesamten Orchesterleistung zu verzeichnen.

Die bisherigen Musikfestwochen in Lugano, die jeweils im Mai und Juni als Pendant zu den im Herbst stattfindenden „Settimane musicali di Ascona“ durchgeführt wurden, sind im Blick auf die neuen Möglichkeiten des LAC zu saisonalen Abonnementskonzerten umgeformt worden. Es war ein Glücksfall für die akustische Erkundung des neuen Saals, dass gleich beim ersten Konzert von Luganomusica (wie die Reihe jetzt heißt) eines der großen europäischen Toporchester antrat. Von der Raumprobe begeistert entschied sich Valery Gergiev am Konzerttag, das reichhaltige Programm mit seinem Mariinsky-Orchester noch um Igor Stravinskys „Feuervogel“-Suite zu erweitern, – ein Fest der Orchesterfarben und Registerklänge.

In derselben Konzertreihe bestritt dann Radu Lupu den ersten Solistenabend im neuen Saal, – vor ausverkauftem Haus. Sein Klavierspiel geriet zu einem Ereignis intimsten Muszierens, das sich problemlos bis in die letzten Reihen der steil ansteigenden Balkonplätze mitteilte. Und soeben hat Bernhard Haitink, dem sich bisher diesseits der Alpen kaum begegnen ließ, auf seiner Kurztournee mit dem Chamber Orchestra of Europe neben Wien und Amsterdam mit zwei Schumann-Abenden auch in Lugano Station gemacht. Auch wer etwa die Vierte Sinfonie Schumanns als eine von Ahnungen und Abgründen reichere Musik im Ohr hat, konnte dem inzwischen 86-jährigen Maestro, elegant, überlegen und gelassen wie eh und je, mit großer Bewunderung applaudieren. Welch eindrucksvoller Hoffnungsträger!

CD- und DVD-Tipps

Die vier Brahms-Sinfonien mit Markus Poschner und der Orchestra della Svizzera italiana werden in Zusammenarbeit mit der Radiotelevisone della Svizzera Italiana im Herbst 2016 auf DVD bei Sony herausgebracht. Soeben ist außerdem eine Einspielung mit dem Duett-Concertino und der Suite „Der Bürger als Edelmann“ von Richard Strauss erschienen. (CPO 777 990-2).

Tournee

Noch im Dezember 2015 ist das Orchester mit seinem ersten Gastdirigenten Vladimir Ashkenazy auf Tournée, am 17. Dezember in Berlin (Philharmonie).

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