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Verknappte Bewegungsregie: Mihoko Fujimura, Susanne Elmark und Bejun Mehta in „Stilles Meer“. Foto: Arno Declair
Verknappte Bewegungsregie: Mihoko Fujimura, Susanne Elmark und Bejun Mehta in „Stilles Meer“. Foto: Arno Declair
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Grauen und Verwüstung finden im Kopf statt

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In seiner neuen Oper „Stilles Meer“ reflektiert Toshio Hosokawa mit leisen Tönen die Fukushima-Katastrophe
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Wie schön darf ein Kunstwerk sein, das ein schreckliches Ereignis zum Gegenstand hat? Die Frage hat seit jeher die Gemüter bewegt, man denke etwa an die exquisite Darstellung der Leiden Jesu in den Bach’schen Passionen. Wer die Staatsoper Hamburg nach der Uraufführung von „Stilles Meer“ verlässt, dem kann sie schon einmal in den Sinn kommen.

Fünf Jahre, nachdem das Seebeben vor der Küste von Fukushima in ein Atomunglück von ungeahnten Dimensionen mündete und den hemdsärmeligen Glauben an die Beherrschbarkeit der Atomkraft weltweit erschütterte, setzt Toshio Hosokawa den Opfern der Katastrophe im Auftrag der Staatsoper ein klingendes Denkmal. Kent Nagano, seit dieser Saison Generalmusikdirektor in Hamburg, dirigiert.

Hosokawa ist im westlichen Ausland einer der angesehensten Komponisten Japans. Das Libretto beruht auf einem Text von Oriza Hirata, seinerseits ein führender japanischer Regisseur, der das Stück auch inszeniert hat. Die beiden haben ein lyrisches, eher introvertiertes Werk geschaffen, dramatisch gespannte Momente sind die Ausnahme. Die Ausstattung gemahnt in ihrer geschmackvollen Selbstbeschränkung von ferne an die Ästhetik eines Bob Wilson: Itaru Sugiyama hat lediglich ein Podest mit kreisrund geschnittener, geneigter Oberfläche auf die Bühne gestellt und dazu einen Steg, der wie bei einem geometrischen Figurenspiel schräg nach oben aus der Bühne herausführt, Daniel Levy trägt subtile Farb- und Lichteffekte bei. Das alles wirkt im Zusammenklang mit Hiratas stark verknappter Bewegungsregie und der hauchfein abschattierten Musik wie eine Einladung zur Meditation.

Das ist für das Sujet eine überraschende Herangehensweise. Immerhin geht es um Tod und Verwüstung, um das Weiterleben unter menschenunwürdigen Bedingungen, auch wenn der Text Fukushima nicht ausdrücklich nennt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Claudia, eine deutsche Ballettlehrerin. Sie hat bei dem Tsunami ihren japanischen Mann und ihren Sohn aus einer früheren Beziehung verloren. Claudia kann nicht in die Gegenwart zurückkehren und sich mit dem Tod ihres Kindes abfinden, sie will es offenbar auch nicht.

Die Hinterbliebenen aus Claudias Dorf machen sich bereit, um an den Strand zu gehen und Laternen aufs Wasser zu setzen. So sollen mit einem alten Ritual die Seelen der Toten dem Meer zurückgegeben werden. „Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne“, singen die Vokalsolisten Hamburg blitzsauber und textverständlich in einem wiegenden Choral, der im Verlauf des Stücks mehrfach auftaucht und es gleichsam einrahmt.

Nur Claudia geht nicht mit. Kaum je verlässt sie den Steg oberhalb des Podests. Dort, fern jeder Erdenhaftung, wartet die blonde Deutsche im japanischen Designergewand (Kostüme: Aya Masakane) darauf, dass Max vom Angeln heimkommt. Susanne Elmark meistert die extremen Höhenlagen der Partie souverän, doch fehlt es ihrem Sopran an Kern und an farblicher Variabilität. Sie spielt die Figur, als wäre sie aus der Achse gefallen.

In den Augen ihrer Umgebung ist Claudia das auch. Stephan, der Vater des Kindes, ist nach dem Unglück aus Deutschland gekommen, um sie heimzuholen. Der Countertenor Bejun Mehta wirbt in herzzerreißenden Lamenti und Seufzern um sie, von Harfenklängen umspült, mit warmem Timbre, hörbar geschult an barocken Verzierungstechniken und mit einer nach innen gewendeten Trauer, die alle irdische Zeit außer Kraft setzt.

Mehta deutet Stephans Verzweiflung in nur wenigen Gesten an. Das Stilisierte, Abgezirkelte gehört zum Konzept. Hosokawa und Hirata beziehen sich in „Stilles Meer“ immer wieder auf das traditionelle japanische Nô-Theater mit den genretypischen Pausen und dem reduzierten Gestenrepertoire. So will Claudias Schwägerin Haruko sie über die Erinnerung an ein Nô-Stück in die Wirklichkeit zurückholen. „Find dich ab“, fordert die fulminante Mezzosopranistin Mihoko Fujimura, „fang ein neues Leben an!“

Aber gerade diese Wirklichkeit lehnt Claudia ab, sie beharrt auf der ihren. Was nicht ausschließt, dass sie Stephan beschreibt, wie sich die Leichen der Ertrunkenen jedesmal verändern, wenn das Meer sie alle paar Tage bringt, solange, bis sie nur noch der Zahnarzt wiedererkennen kann. Es ist eine der wenigen drastischen Passagen inmitten all der leisen Momente. Umso erschreckender, wenn dann das riesig besetzte Schlagwerk ein Erdbeben poltern lässt oder auch gleich die Unentrinnbarkeit des Schicksals, wer weiß das schon so genau.

„Stilles Meer“ enthält sich direkter Kritik am unzureichenden Krisenmanagement der japanischen Regierung. Man habe ihnen gesagt, es gebe keinen Grund zur Sorge, erzählt einer der Fischer aus dem Dorf Stephan, dann bricht er seinen Satz ab. Nur hier und da stecken bürokratische Begriffe, „Evakuierungsbefehl“ oder „verseucht“ etwa, quer wie Fremdkörper in dem zarten Gebilde.

Hosokawas Klänge erzeugen einen wahren Sog, so fein sind sie abgestimmt, klangsinnlich und ohne hyperavantgardistische Schnörkel. Die Timbres der drei Hauptfiguren Claudia, Stephan und Haruko verschmelzen momentweise und entflechten sich sogleich wieder. Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg arbeiten die Strukturen mit feinem Gerät heraus. Die Solostreicher machen beredte Kammermusik, die Bassklarinette flicht Trauerkränze um den einen Moment, in dem Claudia und Stephan gemeinsam Max’ gedenken können.

So verbindet sich das Klangbild mit den Stimmungen auf der Bühne zu einem atmenden Ganzen. Der Himmel an der Bühnenrückwand verfärbt sich unmerklich von unschuldig blau zu nachtschwarz oder auch fallout-giftgelb. Keine Folklore, kein Japan-Klischee, nirgends. Nichts an dieser Schönheit ist Selbstzweck, sie stellt sich immer in den Dienst des Geschehens.

Das Grauen findet trotzdem statt. Im Kopf des Hörers nämlich. Es muss nicht immer Agitprop sein.
 

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