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Erste Bühnenerfahrungen sammeln: jugendliche Protagonisten beim IMPULS-Festival 2014. Foto: Markus Scholz.
Erste Bühnenerfahrungen sammeln: jugendliche Protagonisten beim IMPULS-Festival 2014. Foto: Markus Scholz.
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„Heimat“-Kunde in Sachsen-Anhalt

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Bejubeltes Musiktheater-Jugendprojekt beim 7. IMPULS-Festival für Neue Musik
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Seit seinem Beginn im Jahre 2008 zeichnet das IMPULS-Festival für Neue Musik in Sachsen-Anhalt aus, dass sich sämtliche Orchester dieses Bundeslandes, also auch die in kleineren Provinzstädten wie Halberstadt/Quedlinburg, Wernigerode und Schönebeck, an ihm beteiligen, dass die Konzeption stets darauf abzielt, die Vielfarbigkeit neuerer und Neuer Musik darzustellen, um ein breiteres Publikum für sie zu gewinnen, und dass ein mit besonderer Sorgfalt gestaltetes Jugendprojekt einen unverzichtbaren Bestandteil des Programms bildet.

In den vergangenen Jahren rankten sich die mit Jugendlichen jeweils aus einer anderen Region des Landes erarbeiteten Musiktheaterproduktionen um klassische Mythen wie „Odysseus“ und „Siegfried“ oder sie basierten auf Werken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Hans Krásas im KZ Theresienstadt produzierte Kinderoper „Brundibár“. Das Jugendprojekt 2014, auch dieses Mal von der Dramaturgin Almut Fischer konzipiert und von ihr gemeinsam mit einem künstlerisch hochkarätigen Team geleitet, wagte sich nun an ein besonders heikles, weil abstraktes, zugleich positiv wie negativ belastetes und besonders für Kinder und Jugendliche im Schüleralter in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs schwieriges Thema heran: „Heimat – eine Spurensuche“.

Nachdem die Produktion des Education-Programms der Berliner Philharmoniker – „Wie klingt Heimat?“ – mit 20 Sechstklässlern im vergangenen Mai bei nicht unerheblichem materiellem Aufwand ein doch eher enttäuschendes Ergebnis erbracht hatte, durfte man gespannt darauf sein, wie ein kunterbunt gemischtes Schülerensemble aus Sachsen-Anhalt, nämlich 80 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 19 Jahren aus den Regionen Bitterfeld-Wolfen, Eisleben, Dessau, Halle und Köthen, den schillernden Heimat-Begriff auf der Bühne darstellen würde.

Anfangs gab es auch bei diesem Projekt überhaupt kein „Stück“; Almut Fischer rekrutierte zunächst zu dem nackten Heimat-Motiv einerseits Kinder und Jugendliche in den sozial sehr unterschiedlich strukturierten Regionen, darunter immerhin Schulchöre aus der Lutherstadt Eisleben sowie der Bachstadt Köthen, andererseits das Leitungsteam aus gestandenen Musiktheaterprofis – K.D. Schmidt (Regie), Felix Berner (Choreografie), Lisa Überbacher (Bühne/Kostüme) und Phillip Barczewski (Musikalische Leitung); darüber hinaus konnte sie den beim diesjährigen IMPULS-Festival bereits reichlich beschäftigten Helmut Oehring (* 1961) für die Jugendprojektidee begeistern; der längst mit zahlreichen Auszeichnungen bedachte Komponist steuerte sieben knappe aber prägnante „Module“ unterschiedlichen Charakters bei – bewusst im Kontrast gehalten zum von Anfang an gesetzten „Heimat“-Komponisten der mitteldeutschen Region um Köthen, Johann Sebastian Bach, wobei Oehring die für Bach vorgesehene Streicherbesetzung mit Trompete, Mitglieder der Staatskapelle sowie Kammerakademie Halle, lediglich um Bassklarinette, präpariertes Klavier und ein wenig Live-Elektronik erweiterte.

Ergänzt noch durch einige von Jugendlichen vorgeschlagene Songs zur Beförderung der szenischen Entwicklung ergab sich aus alledem ein musikalisches Patchwork, das sich mit den quasi als Ouvertüre projizierten, von den Jugendlichen mit „Heimat“ assoziierten Fotos, sodann mit gesprochenen, getanzten, gespielten und gesungenen Szenen zu einem erstaunlichen und tatsächlich begeisternden Gesamtkunstwerk verband.

In einem Gespräch mit Christian Höppner hat sich kürzlich der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke, in diesem Jahr für sein Lebenswerk mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet, zu der auch für ihn besonders wichtigen Arbeit mit Jugendensembles geäußert: „Wie viel soziale Schulung bringt gemeinsames Musizieren mit sich, wie viel Schulung in etwas, was unsere Zerstreuungskultur aufs Schlimmste gefährdet: Konzentration! Musik bringt nicht nur Menschen zusammen, sondern auch die Komponenten des Menschseins: Bei kaum einer anderen Tätigkeit werden Kopf, Herz und Physis auf gleichem Niveau gefordert und auf eine Linie gebracht.“  Almut Fischer und ihrem künstlerischen Leitungsteam gelang es hier mit viel Fantasie, Geschick und Einfühlungsvermögen, gemeinsam mit der heterogenen Truppe von teilweise völlig kunst-unerfahrenen Jugendlichen ein multimediales Bühnenwerk zu schaffen und gleichzeitig einzustudieren, indem sie über Improvisationsübungen zur Gestaltung von Texten, Spiel- und Tanzszenen gelangten, die sich dann den jeweils passenden Musikmodulen zuordnen ließen – oder auch umgekehrt: ausgewählte Instrumental- oder Chorsätze wurden in Szene gesetzt.

Das Bühnenbild kommt aus mit gestapelten rohen Holzpaletten und einem Pfahl mit Richtungspfeilen, die nach allen Seiten weisen, sämtlich mit der Aufschrift „Heimat“; der Begriff steht, was mit allen Darstellungsmedien zum Ausdruck gebracht wird, für eine Vielfalt von Dingen, Empfindungen, Klischees, sinnlichen wie emotionalen Erfahrungen, für Träume, versetzt mit Albträumen, steht aber durchaus auch für eine geo-soziale Region, in diesem Falle Sachsen-Anhalt, „das Land von Luther und Genscher“, wie die Spieler am Ende skandieren. In deren Geburtsorten Eisleben und Halle fanden tatsächlich Aufführungen statt, nach der Premiere im Kulturhaus Wolfen ebenso im Anhaltischen Theater Dessau, und zwar am 9. November, auf die Stunde genau 25 Jahre nach der von Günter Schabowski in Berlin unabsichtlich veranlassten Maueröffnung, wodurch auch diese Heimat-Region eine nachhaltige Erschütterung und Neugestaltung erfahren sollte.

Stürmisch begrüßter Ehrengast bei der Aufführung in Eisleben war der Schirmherr dieses Musiktheater-Jugendprojekts, Axel Prahl, besser bekannt als Münsteraner Tatort-Kommissar Thiel, der am Ende in einer kleinen Ansprache bekannte, durch diesen Theaterabend wie nur selten „berührt“ zu sein. Als er anschließend das Publikum zu rhythmischen „Zu-ga-be!“-Rufen animierte, kamen Chor und Orchester, nun auch spontan durch sämtliche Sprecher/Spieler/Tänzer verstärkt, der Forderung nach mit der Wiederholung des strahlend-festlichen Bach-Chors „Freut euch alle – singt mit Schalle“ – ein in der Tat vielfach berührender Abend.

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