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Dirigent aus Freude am Entdecken: Heinz Holliger. Foto: Charlotte Oswald
Dirigent aus Freude am Entdecken: Heinz Holliger. Foto: Charlotte Oswald
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Heinz Holliger in sieben Facetten

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Eine kleine Huldigung zum 80. Geburtstag des vielseitigen Musikers · Von Thomas Meyer
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Am 21. Mai kann der Schweizer Oboist, Komponist und Dirigent Heinz Holliger seinen 80. Geburtstag feiern. Für die neue musikzeitung gratuliert ihm Thomas Meyer und sortiert hier im Anschluss die vielen Aspekte seines Wirkens.

Der Oboist

Zu Beginn galt die Aufmerksamkeit einem phantastischen jungen Oboisten, der mit seiner Musikalität und Virtuosität rasch berühmt wurde. Der Arztsohn, geboren am 21. Mai 1939 in Langenthal, wuchs in einer künstlerisch angeregten Atmosphäre auf. Der etwas ältere, 2010 verstorbene Bruder Erich wurde Theaterregisseur. Der Gymnasiast sog früh vieles in sich auf, was ihn später noch prägen sollte: Musik, Literatur, etwa die Lyrik von Georg Trakl: „Im Gymnasium bin ich zum ersten Mal mit dem Horror des Ersten Weltkriegs konfrontiert worden, obwohl man das im schweizerischen Geschichtsunterricht lieber vertuschen wollte. Man sprach eher von den Bauernkriegen. Trakl zerbrach am Krieg, weil er als Sanitäter allein über hundert Schwerverletzte, die nur noch geschrieen haben, pflegen musste. Damals schon war ich ein totaler Trakl-Fanatiker, was allerdings vielen Gymnasiasten passiert. Schon mit neunzehn begann ich, zu Trakl Skizzen zu machen.“

Als Schüler von Émile Cassagnaud in Bern wurde Holliger in der französischen Oboentradition ausgebildet. Aber er blies nicht nur wunderschön, sondern er zog auch (mittels Zirkuläratmung) waghalsig weite Melodiebögen, etwa in Bach-Konzerten. Später unterrichtete er jahrelang an der Musikhochschule in Freiburg i.Br. Und er hätte sich mit der Solo-oboisten-Stelle bei der Basler Orches-ter-Gesellschaft auch schon auf sein Altenteil besinnen können, aber die Soloauftritte und Aufnahmen häuften sich. Und so verließ er das Orchester 1963 wieder. Mit dem nur schönen Spielen war’s ohnehin nicht getan.

Der Experimentator

Gleichzeitig nämlich begann er auf seinem Instrument zu experimentieren und die Spieltechniken wie kein anderer auszuweiten. Das lag durchaus im Trend der 60er Jahre, aber bei Heinz Holliger kam neben dem Aktionistischen sofort etwas Poetisches hinzu. Verzaubernd etwa wirkten damals die schillernden Oboenmehrklänge in seinem „Siebengesang“ für Oboe, Orchester, Frauenstimmen und Lautsprecher auf einen Trakl-Text.

Mit diesen Spieltechniken regte er wiederum zahlreiche andere Komponisten an. Luciano Berio, Edison Denissow, Franco Donatoni, György Kurtág, Witold Lutosławski, Olivier Messiaen, Krzysztof Penderecki u.a. schrieben eigens Stücke für ihn, außerdem sein Berner Lehrer Sándor Veress sowie die Schweizer Klaus Huber, Rudolf Kelterborn, Hans Ulrich Lehmann. Oft handelte es sich um Duos für Holliger und seine Frau, die Harfenistin Ursula Holliger Hänggi.

Der Extremkomponist

Von Sándor Veress, so sagte er einmal im Gespräch, habe er viel über Form, Entwicklung und vor allem Kontrapunkt gelernt, von Pierre Boulez später hingegen viel über Harmonik, Orchesterbehandlung und Klanglichkeit. Das war eine wichtige handwerkliche Grundlage, auf die Holliger stets zurückgreifen konnte. Rasch jedoch überwand der junge Komponist die ästhetischen Grenzen seiner Lehrer und ging ins Extrem. In vielen seiner Werke strebt er eine Übersteigerung an. In seiner „Cardiophonie“ (1971) für ein Blasinstrument zum Beispiel forderte er den eigenen Körper bis zum Kollaps heraus, indem er den Herzschlag des Interpreten rückkoppelt und das Spiel so in den Abgrund steigert. Sein Streichquartett (1973) endet nach einer heftigen und hektischen ersten Hälfte in einem langen, schmerzhaft absterbenden Röcheln. Im „Psalm“ für 16-stimmigen Chor wird das Celan-Gedicht in Einzellaute zerlegt und zum Schweigen geführt. In den „Jahreszeiten“ nach Hölderlin singen die Vokalisten beim Einatmen.

Der Entdecker

Es waren diese „an die Grenzen physischer und instrumentaler Möglichkeiten getriebenen Anforderungen“, die ihn auch bei anderen Künstlern faszinierten: Grenzgängerisches, Grenzenüberschreitendes. Einer Sensation gleich kam etwa 1972 eine Plattenbox bei der Archiv Produktion, auf der er die Triosonaten des grandiosen Bach-Zeitgenossen Jan Dismas Zelenka vorstellte – und kurz darauf auch noch dessen Orchesterwerke. Diese vernachlässigte und dunkle Musik zog ihn so sehr an, dass er sie später für ECM ein zweites Mal aufnahm.

Auch für die Opern von Schubert oder die Orchesterwerke von Charles Koechlin und anderen hat er sich maßgeblich eingesetzt, vor allem aber immer wieder für den späten Schumann. Wie dieser baute er sich eine Art Familie auf, die Hausgötter aus der Musikgeschichte umfasst, aber auch wichtige Zeitgenossen. Bernd Alois Zimmermann, Kurtág, Carter gehören dazu. Ständig verweist er mit Zitaten und Allusionen (und seien’s nur Zahlenspiele) auf diese Kollegen. Holligers Musik ist in hohem Maß intertextuell angelegt. Entsprechend häufig finden sich Transkriptionen und Bearbeitungen, so von Liszts „Nuages gris“ oder von Debussys letztem Klavierstück „Les soirs illuminés par l’ardeur du charbon“. Dabei denkt er diese reduzierten Klavierstücke weiter, lässt sie wie durch einen Schleier erscheinen, klanglich aufblühend und doch fragmentartig. Bezeichnenderweise handelte es sich auch da wieder um Spätwerke, entstanden wenige Jahre oder Monate vor dem Tod der Komponisten. Der Tod übt eine große Anziehungskraft aus. Es sei doch eigentlich erstaunlich, meinte der Flötist Aurèle Nicolet einmal, dass Holliger „mit seiner unverwüstlichen körperlichen und seelischen Gesundheit sich immer zu zerbrechlichen, bedrohten Menschen hingezogen fühlt und dass sich seine Musik so oft mit dem Tod befasst“.

Der Dirigent

Die Entdeckerfreude (und die Einsicht, dass andere es nicht taten) mag mit ein Grund gewesen sein, dass sich Holliger dem Dirigieren zuwandte. Ab 1975 holte ihn Paul Sacher als ständigen Gastdirigenten zum Basler Kammerorchester. Einen Chefposten nahm Holliger nie an, aber er nutzte jede Gelegenheit, die Komponisten aus seiner „Familie“ (und auch die eigenen Werke) exemplarisch aufzuführen, so seinen Lehrer Sándor Veress. „Ich dirigiere nur die Werke, die mich interessieren und die mir wichtig sind; ich setze mich für das ein, woran ich glaube! Und ich will die Musik von Veress bekanntmachen, die noch immer verkannt ist. Indem ich das tue, was mir wirklich am Herzen liegt, glaube ich, dass ich vielleicht etwas Neues bringe.“ Und so dirigiert er anderes wiederum nicht, Wagner zum Beispiel: „Ich hasse Musik, die sich einem so lange aufdrängt, bis man an sie glauben und ihr nachgeben muss. Das ist für mich eine psychisch aggressive Musik. Ich kann darin nicht mehr atmen.“

Ab 1980 etwa öffnete sich Holliger aus seiner früher eher eigenbrötlerischen Introversion dem Musikbetrieb gegenüber. „Aus Sorge über den Kulturbetrieb möchte ich meine Kräfte auch in den Dienst von kulturellen Arbeiten stellen, die andere Möglichkeiten zu jener immer penetranteren Angebot-Nachfrage-Kultur aufzeigen. Musik ist etwas unendlich Wichtiges im Leben und nicht nur ein Nervenkitzel oder eine Beruhigungspille für gestresste Leute; es ist die Auseinandersetzung mit den ganz essentiellen Dingen der Existenz,“ sagte er im Gespräch. Das war gerade auch in der Schweiz wichtig. So initiierte er neue Konzertreihen. In Basel gehörte er zu den Gründern des Musikforums, das die zeitgenössische Musik pflegte; in Ittingen leitete er mit András Schiff jahrelang die Pfingstkonzerte.

Der Initiator

Oft standen Randfiguren, Dichter und Künstler am Rande des Verstummens und des Wahnsinns im Fokus: Celan, Nelly Sachs, Beckett, Hölderlin, Adolf Wölfli, Robert Walser, Louis Soutter. Damit regte er auch Kollegen zur Auseinandersetzung an. Um 1980 löste er durch seinen „Scardanelli-Zyklus“ – etwa gleichzeitig Nonos Streichquartett – eine regelrechte Hölderlin-Welle aus. Ähnliches wenige Jahre später mit Walser. Holliger ist ein vielimitierter Komponist. Einen anderen wichtigen Impuls, zumindest für die helvetische Musik, gab er unerwarteterweise 1991, als er für die Oberwalliser Spillit den „Alb-Chehr“ komponierte, eine „Geischter- und Älplermüsig“ in der selbst für die anderen Deutschschweizer manchmal nur schwer verständlichen Walliser Mundart. Dahinter glaubt man den Musikethnologen Veress zu spüren. Holliger imaginierte mit dem traditionellen Instrumentarium (Schwyzerörgeli, Hackbrett, Flaschenklavier) etwas einzigartig Atmosphärisches. Die neue Schweizer Volksmusik ist (zumal von der „E-Musik“-Seite her) ohne dieses populäre Stück nicht denkbar. Es war eine „Reaktion auf diese domestizierte Art von Folklore, die bei uns offiziell gefördert wird – eine in Plastik eingeschweißte Folklore“, aber auch „auf die keimfreie Ästhetik der Boulez-Schule. Ich wollte möglichst viel unreines Material verwenden, Elemente mit Stallgeruch.“ Seither greift Holliger gelegentlich auf Mundartlyrik zurück. Er fördert den kurligen Teil der Schweiz zutage.

Der Opernkomponist

Seine erste Oper „Der magische Tänzer“ nach Nelly Sachs war kaum adäquat aufführbar, weil sie die Möglichkeiten einer Bühne überforderte, seine drei Beckett-Opern („Come and go“, 1976/77, „Not I“, 1978–80, „What Where“, 1988) wiederum extrem reduziert, seine Walser-Oper „Schneewittchen“ ein verwirrliches Traumtheater. Mit seiner jüngsten – „Lunea“ über Nikolaus Lenau – gelang ihm vor einem Jahr ein berückend trauriges Musiktheater. Auch das eine typische Wahl, denn der Biedermeierdichter verbrachte seine letzten Jahre nach einem Schlaganfall innerlich zerrissen in geistiger Umnachtung. Und doch wandelt sich Holligers Musik hier abermals: Es gibt keinen pauschalen Steigerungsbogen, keine sich zuspitzende Dramatik, sondern eine wunderbar mehrdimensionale Klanggestaltung. Und die Sprache wächst heran zu einer atmenden Musik.

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