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Pianist Luis Benedict Alfsmann bei der Präsentation der Ausgabe.  Foto: Oliver Schaper
Pianist Luis Benedict Alfsmann bei der Präsentation der Ausgabe. Foto: Oliver Schaper
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Herausfordernd und dankbar

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Guido Johannes Joerg im Gespräch über den Komponisten Eduard Wilsing (1809–1893)
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Die Wiederentdeckung des Komponisten Eduard Wilsing schreitet voran. Anlässlich der Ausgabe sämtlicher Klavierwerke im Verlag Dohr hat Juan Martin Koch mit dem Herausgeber Guido Johannes Joerg gesprochen.

neue musikzeitung: Wann ist Ihnen der Name Eduard Wilsing zum ersten Mal begegnet?

Guido Johannes Joerg: Das war im Herbst 2020, als Christoph Dohr mich fragte, ob ich die gesamten Klavierwerke Wilsings neu edieren wolle. Einige Dortmunder Vereine und Privatpersonen hatten dies in die Wege geleitet und sich an den Verlag Dohr gewandt. Nach einem ersten Durchspielen am Klavier war ich verwundert, dass ich diesen Namen zuvor noch nie gehört hatte. Denn es ist sehr schöne Musik aus dem romantischen Geist der 1840er-Jahre. Es ist sehr dankbar fürs Klavier, und durchaus ein bisschen herausfordernd.

nmz: Die drei Klaviersonaten op. 1 hat Wilsing seinem Lehrer, dem Komponisten und Klavierpädagogen Ludwig Berger gewidmet, bei dem auch Mendelssohn Unterricht hatte. Spürt man da einen gemeinsamen Tonfall?

Joerg: Mendelssohn hört man weniger, finde ich. Es ist Schumann drinnen, Carl Maria von Weber – und auch einiges von Beethoven. Wie intensiv Wilsing bei Berger wirklich studiert hat, wissen wir gar nicht, denn die biografischen Informationen, die wir haben, sind eher dürftig. Berger war 1834, als Wilsing nach Berlin kam, jedenfalls bereits sehr betagt, und Wilsing war zu diesem Zeitpunkt schon ausgebildeter Musiker; deshalb dürften die Einflüsse eher gering sein.

nmz: Was weiß man über Wilsing?

Joerg: Man weiß hauptsächlich das, was er 1852 einem Wiener Journalisten für ein geplantes Komponistenlexikon in einen Fragebogen geschrieben hat. Dazu gibt es ein wenig drumherum. Das Hauptproblem ist aber, dass er den Großteil seiner Manuskripte und Dokumente in seinen späteren Lebensjahren vernichtet hat. Ob er mentale Probleme hatte, darüber gibt es verschiedene Ansichten. In jedem Fall aber war er ein sehr zurückgezogener Mensch, der nicht an die Öffentlichkeit strebte.

nmz: Obwohl er auf seine Werke ja durchaus positive Resonanz bekommen hat, unter anderem von Robert Schumann…

Joerg: Ja, aber er war eben einer, der im Stillen arbeitete und sich nicht „vermarkten“ konnte. Er hat in der Tat gutes Feedback von Schumann bekommen, dem die Klavierwerke sehr gefallen haben, dem Kollegen Gottfried Wilhelm Fink von der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung ebenso. Wie Schumann lobte auch Arnold Mendelssohn Wilsings Oratorien.

nmz: Die Ausgabe der Klavierwerke ist jetzt in relativ kurzer Zeit entstanden. Quellenprobleme gab es also eher nicht, nehme ich an?

Joerg: Nicht so sehr. Die glückliche Fügung bestand darin, dass die Urgroßnichte Wilsings, die in Edinburgh lebt, eine Sammlung der Erstausgaben besitzt. Ansonsten wäre es schwierig geworden, da die Werke nur in wenigen Bibliotheken überliefert sind. Mit diesen Ausgaben – bis auf die Humoreske op. 11 alle bei Bote & Bock erschienen – war gut zu arbeiten.

nmz: Beim Westfälischen van Bremen Klavierwettbewerb gibt es seit einiger Zeit eine Sonderkategorie für die Interpretation von Wilsing-Werken. Sind die Stücke da gut aufgehoben?

Joerg: Ja, denn das ist keine Anfängerliteratur, kein „Album für die Jugend“, um es einmal so auszudrücken. Es gibt einige Sätze, die nicht so schwierig sind, aber andere, da braucht man schon einen gestandenen Pianisten, um das zu bewältigen. Die Schwierigkeit besteht darin, den Namen Wilsing bekannter zu machen. Da werden jetzt nicht gleich die großen Weltstars Schlange stehen, um eine Gesamteinspielung zu produzieren. Deswegen ist die Vorgehensweise van Bremens in Dortmund sehr lobenswert: Man versucht auf der einen Seite, Wilsing ein wenig populärer zu machen, der ja in Dortmund-Hörde geboren wurde, und auf der anderen Seite, junge Menschen für dieses Repertoire zu interessieren. Da sind ja durchaus auch fortgeschrittene Pianisten mit dabei, die schon an ihrer Karriere arbeiten.

nmz: Konnte die Ausgabe wie geplant auch öffentlich vorgestellt werden?

Joerg: Ja, die Dortmunder Vereine hatten für Ende November 2021 eine öffentliche Präsentation angesetzt, die auch durchgeführt werden konnte. Es war ein Vortragsabend mit musikalischen Beiträgen. Gespielt wurde Wilsings Violinsonate, die schon vor einiger Zeit als Erstdruck bei Dohr erschienen ist, und die vierte Klaviersonate.

nmz: Sie haben ja schon früher für die eine oder andere Entdeckung gesorgt, Hermann Bendix wäre da unter anderem zu nennen. Wie stoßen Sie auf so etwas?

Joerg: Das ist gar nicht so schwer, wenn man einmal damit angefangen hat. Es fällt einem dann vieles in die Hände, und man muss dann beurteilen und auswählen, was sich für eine Veröffentlichung lohnt. Bei Hermann Bendix hat sich gezeigt, dass seine Musik durchaus eine gewisse Verbreitung gefunden hat. Man muss freilich hartnäckig bleiben.

nmz: Kann man da systematisch und gezielt vorgehen durch Recherche in Bibliotheken oder alten Verlagskatalogen?

Joerg: Es geht eigentlich um das Stutzigwerden und um das Nachhaken. Man kann gezielt in Bibliotheken suchen, aber dafür braucht man einen Anhaltspunkt. Bei Bendix war es so, dass ich Urlaub bei Freunden an der Ostseeküste gemacht habe. Die erzählten von dem befreundeten Damgartener Pfarrer, der Noten auf dem Speicher des zuvor abgerissenen Kantorenhauses gefunden und gerettet hatte…

nmz: …der Klassiker…

Joerg: Ja genau. Oft sagt man in solchen Fällen: Es ist sehr schön, dass Sie das haben, aber viel wert ist es nicht. Doch in diesem Fall hat er mir drei Handschriften gezeigt und ich habe sofort gesehen: Das ist anders, das geht über vieles von dem hinaus, was sonst in dieser Zeit entstanden ist. Und so haben sich seine Werke durchaus ein wenig verbreitet, zum Beispiel die kleine Romanze „Abendfrieden“ für Bratsche und Orgel, die mittlerweile häufiger gespielt wird.

nmz: Das hat dann oft auch etwas mit Besetzungen zu tun, für die es nicht so viel Literatur gibt, oder?

Joerg: So ist es. Bei Klaviermusik oder Violinsonaten ist es schwieriger, jemanden zu finden, der auf solche ausgefalleneren Sachen anspringt, aber bei einer solchen Besetzung geht es.

nmz: Zurück zu Wilsing, dessen Klavierwerke nun ja auch in Einzelausgaben erhältlich sind. Wo lohnt es sich für Interessierte zu starten?

Joerg: Es macht sicher Sinn, chronologisch zu beginnen, denn es ist auch eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades festzustellen, innerhalb der ers­ten drei Klaviersonaten op. 1 auf jeden Fall. Als Einsteiger lohnt es sich, mit op. 1, Nr. 1 anzufangen. Die Humoreske op. 11, das letzte Klavierwerk, ist deswegen ein bisschen vertrackt, weil sie bis auf die letzten Takte komplett als Kanon zwischen linker und rechter Hand ausgeführt ist und ihr gleichzeitig eine Sonatenhauptsatzform zugrunde liegt. Das muss man sich erst erarbeiten.

nmz: Also nicht nur im Sinne einer technischen Herausforderung?

Joerg: Ja, man muss wissen, welche Form zugrunde liegt und sie den Hörern so vermitteln, dass sie auch wahrgenommen werden kann.


Daniel Friedrich Eduard Wilsing: Sämtliche Klavierwerke. Sonaten und Einzelstücke, hrsg. von Guido Johannes Joerg, 262 S., Hardcover, Verlag Christoph Dohr E.D. 20341, M-2020-4341-7 - € 128,-

Einzelausgaben: Sonate Nr. 1 f-Moll op. 1 Nr. 1 (E.D. 20342), Sonate Nr. 2 A-Dur op. 1 Nr. 2 (E.D. 20343), Sonate Nr. 3 Es-Dur op. 1 Nr. 3 (E.D. 20344),    Caprice E-Dur op. 6 (E.D. 20345), Sonate [Nr. 4] Fis-Dur op. 7 (E.D. 20346), Fantasia fis-Moll op. 10 (E.D. 20347), Humoreske (in canonischer Form) e-Moll op. 11 (E.D. 20348), Drei Fugen o.op. (E.D. 27593)

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