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„Ich bin ein Einzelkrebs“

Untertitel
Grete von Zieritz: Ihr Leben umspannte das 20. Jahrhundert
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Im alten Westberlin war sie musikalisches Urgestein, die Doyenne der Komponistinnen – die es damals fast noch nicht gab. Dabei hatte sie mit der erstarkenden Frauenbewegung oder karrierefördernden Künstlerinnenvereinigungen nichts am Hut. Als „weiblicher Komponist“ sah sie sich, nicht als „Komponistin“. Doch klar war, dass sie in eine Männerdomäne eingebrochen war; dafür gab es mehr Respekt und Lobesworte als Aufführungen ihrer Werke. Wer Grete von Zieritz in den wenigen, stets eindrucksvollen Konzerten erlebte, wusste nicht, was er mehr bewundern sollte: die Persönlichkeit dieser Frau, auch im hohen Alter von tadelloser Haltung und unverwüstlicher geistiger und körperlicher Frische, oder ihre aussagekräftige, ihr jeweiliges Thema mit immer neuer individueller Fantasie bearbeitende Musik. Beides gehörte untrennbar zusammen und machte sie, deren Leben das ganze vergangene Jahrhundert umspannte, zu einer seiner großen, imponierenden Gestalten. Im November 2001 starb Grete von Zieritz im Alter von 102 Jahren.

Im alten Westberlin war sie musikalisches Urgestein, die Doyenne der Komponistinnen – die es damals fast noch nicht gab. Dabei hatte sie mit der erstarkenden Frauenbewegung oder karrierefördernden Künstlerinnenvereinigungen nichts am Hut. Als „weiblicher Komponist“ sah sie sich, nicht als „Komponistin“. Doch klar war, dass sie in eine Männerdomäne eingebrochen war; dafür gab es mehr Respekt und Lobesworte als Aufführungen ihrer Werke. Wer Grete von Zieritz in den wenigen, stets eindrucksvollen Konzerten erlebte, wusste nicht, was er mehr bewundern sollte: die Persönlichkeit dieser Frau, auch im hohen Alter von tadelloser Haltung und unverwüstlicher geistiger und körperlicher Frische, oder ihre aussagekräftige, ihr jeweiliges Thema mit immer neuer individueller Fantasie bearbeitende Musik. Beides gehörte untrennbar zusammen und machte sie, deren Leben das ganze vergangene Jahrhundert umspannte, zu einer seiner großen, imponierenden Gestalten. Im November 2001 starb Grete von Zieritz im Alter von 102 Jahren.Eigensinn im besten Sinne zeichnete Grete von Zieritz schon in früher Jugend aus. Am 10. März 1899 wurde sie als Tochter eines aus Ungarn stammenden k. u .k-Offiziers und einer Malerin in Wien geboren – „noch mit einer halben Ferse“ im 19. Jahrhundert, wie sie einmal meinte. Schon mit fünf Jahren erhielt sie ersten Klavierunterricht und zeigte auch erste kompositorische Begabung: „Ich hörte in einem bestimmten Rhythmus Pferdehufe auf dem Granitpflaster klappern, kletterte auf das Fenstersims und sehe einen Trauerzug vorbeiziehen, springe herunter ans Klavier, nehme den Rhythmus in meine erste Improvisation auf.“ Hier sind schon wichtige Elemente ihres Schaffens vorweggenommen: die Anregung durch Bilder oder Situationen und ihre teils direkte musikalische Umsetzung; der konkrete inhaltliche Bezug und das intensive seelische Erleben; das Thema Tod, das sie zeitlebens nicht mehr loslassen sollte. Doch trotz einer umfassenden Ausbildung in Klavier und Komposition beim Steiermärkischen Musikverein in Graz, die sie 1917 in allen Fächern mit Auszeichnung abschloss, wurde ihr – wie sich das für eine Frau gehörte – die Pianistenlaufbahn bestimmt. Schließlich war sie schon als 13-jähriges Wunderkind hervorgetreten; später sah man sie sogar als künftige zweite Elly Ney.

In Berlin sollte sie sich bei Martin Krause, dem Liszt-Schüler und Lehrer unter anderem von Claudio Arrau und Edwin Fischer, den letzten pianistischen Schliff holen. Das kulturelle Leben der deutschen Hauptstadt faszinierte die 18-Jährige jedoch so sehr, dass sie nach den vorgesehenen drei Monaten einfach nicht nach Hause zurückkehrte. Sie überwarf sich mit dem Vater und verdiente fortan selbst ihren Lebensunterhalt. Umso bemerkenswerter, dass sie sich 1922, ermutigt durch den Erfolg ihrer „Japanischen Lieder“, ganz für die schwierige Existenz als Komponistin entschied. In den zehn Gesängen klingt bereits die ihr eigene Sicherheit der Diktion an – sie entstanden in nur zwei Tagen nach einem „innerlich gehörten Musikdiktat“ –, poetische Charaktere wie „Einsamkeit“, „Sommerduft“ oder „Am heiligen See“ in wenigen Tönen prägnant umreißend, in melodischer Erfindung und kontrastreicher Sprachausdeutung durchaus „operntauglich“. Dass Franz Schreker, den die junge Tonsetzerin 1922 bei einer Aufführung des „Fernen Klangs“ in Braunschweig kennen lernte, sie zum Studium bei sich einlud, wundert nicht. Doch erst vier Jahre später trat Grete von Zieritz in die Meisterklasse des berühmten Opernkomponisten und Direktors der Berliner Musikhochschule ein. Dazwischen lag der gescheiterte Versuch einer Familiengründung. „Das ‚Sichselbstgehörendürfen‘ ... ist wohl die wichtigste Grundeinstellung, die eine Komponistin haben und fühlen muss“, kommentierte sie das lapidar. Bei Schreker konnte sie diesen Standpunkt in anderer Hinsicht verwirklichen, „...weil er bei aller Strenge Individualisten ausbildete, wodurch ich mir gehorchen, meiner inneren Stimme folgen konnte, denn die ist es immer, einzig und allein, die mich lenkt und mir befiehlt“. Immerhin, vom zweiten Thema ihrer Klaviersonate musste die Elevin sechzehn Fassungen vorlegen, bis der Meister zufrieden war. Nach zwei Jahren Studium erhielt sie den Mendelssohn-Staatspreis und das Schubert-Stipendium der Colombia Phonograph Company New York. Der Erfolg blieb ihr auch in den 30er-Jahren treu; ihre nun rastlos hervorgebrachten Werke wurden von namhaften Interpreten aufgeführt, so etwa die „Vogellieder“ von 1933 durch Karl Böhm mit der Staatskapelle Dresden und der Koloratursopranistin Erna Sack. Natürlich zollte auch eine Grete von Zieritz dem Zeitgeist Tribut etwa in Form einer altväterlichen „Bokelberger Suite“, doch entstanden auch die melancholisch düsteren „Bilder vom Jahrmarkt“, Schreckensvision in zirzensischer Verkleidung, deren positives Gegenbild eine vor der Katastrophe warnende Zigeunerin ist.

Die großen Menschheitsprobleme – Krieg, Unterdrückung, Umweltzerstörung – bestimmten nach Kriegsende zunehmend den Inhalt ihrer Werke und schärften Dichte und Spannungsgrad ihrer Ausdrucksmittel. Obwohl sie der Avantgarde-Entwicklung seit Schönberg ablehnend gegenüberstand – vieles, was sich Neue Musik nenne, sei weder neu noch Musik, befand sie noch in einem ihrer letzten Interviews –, konnte sie neben tonalen und modalen Wendungen durchaus auch Dodekaphonie einsetzen. Dass dies nie abstrakt-unverständlich geriet, verdankt sie nicht nur ihrer ausgesprochen melodischen, syntaktisch ausgefeilten Begabung. Mehr noch verschafft der dramatische, manchmal geradezu szenisch wirksame Zuschnitt ihrer Klangbilder und -gesten unmittelbaren Zugang. Auch in reinen Instrumentalstücken gibt es musikalische „Rollenspiele“, etwa im „Concertino“ von 1984, in dem die freche, bewegliche Klarinette die Streicher allmählich aus der streng abgezirkelten Reserve lockt, oder im „Waldspaziergang“ (1982), wo gar eine einzelne Klarinette den Dialog zweier Politiker darzustellen hat. Mit solchen Möglichkeiten betreibt die Komponistin eine „über allen Parteien stehende Musikpolitik, eine musikalische Sprache, die alle Menschen angeht und von ihnen auch verstanden werden kann.“ Schon die 15-Jährige überschrieb den 3. Satz ihrer „Phantasie-Sonate“ für Violine und Klavier: „Die Soldaten ziehen dahin und wissen nicht, wohin sie gehen, vielleicht zum Tod, vielleicht zum Glück“ – und zeigte sich damit ihrer siegesgläubigen Familie unwürdig. Als ein Hauptwerk sah sie später die Chor-Oper (a cappella mit Pauken und Schlagzeug) „Kosmische Wanderung“ an, ein durchaus expressionistisches Szenario (auf eigene Texte) der vor der Atomgefahr flüchtenden „in Panik ergriffenen Landschaft“, das es bisher nur zur Rundfunkaufführung brachte. 1968 hatte das hellseherische Kraft. Als „musikalische Seherin“ bezeichnete sich Grete von Zieritz auch etwa im Zusammenhang mit den „Danses macabres“, „Le violon de la mort“ (1952), deren Inspiration sie auf eine „leibhaftige Begegnung“ mit dem Tod zurückführt, in ihren mittelalterlichen Anklängen Reflex auf den Tod des Vaters wie der Millionentode aus Naziverbrechen und Weltkrieg. Die Komponistin selbst wird so Verkünderin der „Kassandra-Rufe“, ein Auftragswerk des Senders Freies Berlin nach zehn Bildern des Malers Christoph Niess, das die Seelenzustände der Seherin in die Instrumente charakteristisch einsetzenden Solostücken schildert und mit einem Nonett – „Ausblick auf neues Leben“ – eine überraschende Wendung nimmt.

Das Entstehungsjahr 1986, Datum der Tschernobyl-Katastrophe, markiert so etwas wie den Abschluss einer längst fälligen Neuentdeckung. Die „Kassandra-Rufe“ gingen auf Reisen bis ins weißrussische Minsk und wurden, auf die eben geborene „Glasnost“ und „Perestroika“ stoßend, zum künstlerischen Zeichen von Frieden und Völkerverständigung. Schon zwei Jahre zuvor war das im Auftrag der Berliner Festwochen entstandene „Zigeunerkonzert“ für Violine und Orchester in der Philharmonie uraufgeführt worden. Auch dies eine dramatische Bildfolge von Leid und aus der Identitätsquelle der Tradition geschöpfter Gegenkraft: „Ich fühle mich den Zigeunern so wie allen Unterdrückten verbunden, weil ich als weiblicher Komponist während meines ganzen Lebens unterdrückt wurde und diese Unterdrückung wie ein blutroter Faden meine ganze Existenz geprägt hat und schwere Narben hinterließ.“, erklärte von Zieritz die Wahl des Sujets. Durchaus erlebte auch sie in der Nazizeit, zumindest durch deren kulturelle Abschottung, ihren „Karriereknick“, den männliche Vorurteile bereits vorbereitet, die in die „Tabula rasa“-Situation nach 1945 stoßende serielle Vorherrschaft zementiert hatten. Wie andere Mitschüler bei Franz Schreker – Berthold Goldschmidt, Ignace Strasfogel, Karol Rathaus – hätte sie eine zwischen Tradition und Avantgarde stehende Moderne entwickeln können, welche, damals durchaus auf der Höhe der Zeit, den Kontakt zu ihrem Publikum nicht verlor.

Folgerichtig verhalf ihr erst die „Postmoderne“ ein wenig zu ihrem Recht. Dass sie, hochdramatische Natur und selbst sprachmächtige Verfasserin unvertonter Opernlibretti sowie zahlreicher Texte für ihre Vokalwerke, niemals den Auftrag für ein Bühnenwerk erhielt, gehörte zu ihren größten Enttäuschungen. Doch für sie kam keinerlei Anpassung in Frage, auch wenn dies ein schweres Leben bedeutete: „Ich bin ein Einzelkrebs“, sagte sie über sich, und: „Alles, was du schreibst, muss absolut wahrhaftig sein.“

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