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Gideon Rosengarten.  Foto: Jugend musiziert
Gideon Rosengarten. Foto: Jugend musiziert
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„Ich glaube, wir erleben eine Renaissance des Hörfunks“

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Ein Gespräch mit dem leidenschaftlichen Radiomenschen Gideon Rosengarten zum 80. Geburtstag
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Gideon Rosengarten wird im Juli 80 Jahre alt. Geboren 1939 in einem Vorort von Tel Aviv, studierte er nach seinem Abitur Physik, Mathematik und Angewandte Mathematik in Jerusalem, parallel dazu Musik mit Hauptfach Klavier an der Jerusalemer Musikakademie. 1965 ging er erstmals mit einem DAAD-Stipendium nach Deutschland, 1967 wurde er Musikredakteur beim Israelischen Rundfunk und Dozent an der Jerusalemer Musikakademie. Ab 1971 absolvierte er ein Aufbaustudium Neue Musik bei Aloys Kontarsky an der Musikhochschule Köln, 1973 wurde er Leiter der Musikabteilung des israelischen Rundfunks. Es folgte ein Forschungsstipendium beim IRCAM in Paris (1978); im gleichen Jahr wurde er Intendant der Berliner Symphoniker, 1982 Hauptabteilungsleiter Musik beim Saarländischen Rundfunk, schließlich 1990 Leiter der Musikabteilung des Deutschlandfunks, 1992 Hauptabteilungsleiter Musik beim RIAS Berlin und 1994 Hauptabteilungsleiter Musik beim Deutschlandradio Köln und Berlin. 2004 ging er in den Ruhestand. Rosengarten ist seit 1996 Mitglied im Projektbeirat „Jugend musiziert“, seit 2010 dessen Stellvertretender Vorsitzender. Er war und ist gefragter Juror bei zahlreichen Musikwettbewerben. nmz-Herausgeberin Barbara Haack sprach mit dem Jubilar.

nmz: Sie sind in Israel geboren, haben aber vermutlich deutsche Wurzeln?

Gideon Rosengarten: Ja, meine Eltern haben lange im deutschen Kulturraum gelebt. Mein Vater ging kurz nach Ende der k. u. k.-Monarchie nach Prag. Die jüdische Gemeinde dort bestand im Wesentlichen aus kaisertreuen Staatsbürgern, die allgemein anerkannte Sprache war deutsch.

nmz: Wann ging es nach Palästina?

Rosengarten: Den unguten Wandel der Zeiten haben meine Eltern rechtzeitig gespürt und gingen schon im Dezember 1932 nach Palästina. Mein Vater war von diesem Neuanfang der Gesellschaft in Palästina, von der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft Feuer und Flamme. Meine Mutter musste er überreden.

nmz: Sie selbst sind dreisprachig aufgewachsen?

Rosengarten: Ja, meine echte Muttersprache war Französisch, weil meine Mutter nicht sehr gut Hebräisch sprechen konnte. Ich habe sie aber, nachdem ich in den Kindergarten kam, gezwungen, Hebräisch zu reden.

nmz: Und die deutsche Sprache?

Rosengarten: Deutsch habe ich eigentlich nicht richtig gelernt, sondern nur zuhause aufgeschnappt. Meine Eltern hatten aus der Prager Zeit eine ganze Reihe von Freunden und Bekannten, die nur oder fast nur deutsch sprachen.

nmz: Freunde, die auch nach Palästina ausgewandert waren?

Rosengarten: Ein Teil ist vor dem Zweiten Weltkrieg gekommen und einige wenige haben Theresienstadt überlebt. Sie sprachen komischerweise mit meinen Eltern niemals tschechisch, sondern immer nur deutsch. In Israel konnte man deutsch damals nicht in der Schule lernen. An der Universität gab es das auch nicht. Im Gegenteil, es gab sogar erheblichen Widerstand gegen die Verwendung der deutschen Sprache. Ich musste diesem Unsinn noch Vorschub leisten, als ich schon Redakteur beim israelischen Rundfunk war, weil wir die 9. Symphonie von Beet­hoven immer nur mit dem Schlusschor in englischer Sprache senden durften.

nmz: Wie war Ihr Bild von Deutschland in dieser Zeit?

Rosengarten: Ich hatte keine Probleme, aber meine Eltern waren nicht begeistert. Als ich 1965 ein DAAD-Stipendium bekam, war ich schon graduiert von der Musikhochschule in Jerusalem und musste drei Jahre Militärdienst leisten. Dann bekam ich Zusagen und konnte wählen, ob ich nach Paris, Genf oder nach Berlin bzw. Freiburg wollte. Ich habe mich für das deutsche Angebot entschieden.

nmz: Zu dieser Zeit war Deutschland in Israel doch verhasst. Wie haben Sie das erlebt? 

Rosengarten: Das stimmt. Aber ich selbst hatte keine Ressentiments. Der Großteil der Familie meines Vaters wurde in der Shoah ermordet. Aber für mich waren das keine Menschen, die ich kannte. Das waren Erzählungen, aber ich konnte mir davon kein Bild machen. Und die Familie meiner Mutter war klug genug, schon 1923 nach Palästina zu emigrieren. Ich hatte also persönlich keine Probleme, meine Eltern schon eher.

Meine Eltern haben mich immer sehr frei erzogen, sie waren sehr tolerant. Ich habe immer Sachen gemacht, die ihnen überhaupt nicht gefallen haben. So war die Situation auch mit Deutschland. Meine Mutter hat es mir, glaube ich, nie verziehen, dass ich nach Deutschland ging, aber sie war nobel genug, das nicht zu thematisieren.

nmz: Sie haben Mathematik studiert, gleichzeitig auch Musik. Wie ist das Verhältnis von Musik und Naturwissenschaften bei Ihnen?

Rosengarten: Irgendwann dachte ich, ich müsse mich auf eine Sache konzentrieren. Naturwissenschaften machte ich nicht schlecht und mochte das auch, aber ohne Musik konnte ich nicht leben. Mit der Musikerziehung habe ich sehr spät angefangen. Meine Eltern haben das nicht ernst genommen. Meine erste Klavierlehrerin war leider keine sehr gute Klavierlehrerin. Und leider habe ich auch nicht geübt. Dadurch wurden meine Fundamente nicht richtig gelegt. Am Ende war ich so verzweifelt, dass ich aufhören wollte. Und dann riet mir jemand, zu einer externen Autorität zu gehen. Das war Professor Leo Kestenberg. Ich kam zu ihm und spielte eine Haydn-Sonate, ganz miserabel. Der Arme war ganz verzweifelt und wollte mich schon wegschicken. Aber irgendetwas hat ihm gesagt, dass da vielleicht doch etwas sei. Er begann, am Klavier „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ von Bach in einer Bearbeitung von Liszt zu spielen. Er fragte: „Sagt Ihnen das was?“, und ich antwortete: „Nein, keine Ahnung, aber ich kann es Ihnen vorspielen!“. Ich habe mich also hingesetzt und ganz genau das gespielt, was ich gehört hatte. Er testete mein Gehör und sagte: „Sie haben ein absolutes Gehör“. Da habe ich gesagt: „Das freut mich sehr, ich höre das zum ersten Mal, was ist das?“. Er riet mir dann, unbedingt weiter Musik zu studieren und den Lehrer zu wechseln. aber das war schon sehr spät. Deshalb wusste ich, dass ich niemals wirklich Berufspianist werden kann.

nmz: Was war dann Ihr Berufsziel?

Rosengarten: Ich wusste auch, dass ich nicht Klavierlehrer werden wollte, obwohl ich das eine Zeit lang in Jerusalem machte. Dann kam es zu ersten journalistischen Versuchen. Dann wurde ich freier Mitarbeiter für den israelischen Rundfunk. Eine Tätigkeit, die ich unterbrechen musste.

nmz: Sie sind dann nach Deutschland gegangen…

Rosengarten: Genau. Ich unterbrach sie, um nach Deutschland zu gehen. Ich habe mit einem Stipendium vom DAAD ein Jahr bei Helmut Roloff in Berlin studiert. Nach einem Jahr bin ich nach Israel zurückgegangen. In dieser Zeit habe ich für den israelischen Rundfunk gearbeitet und mehrere Artikel über Neue Musik geschrieben.

nmz: Neue Musik war schon früh Ihre Leidenschaft?

Rosengarten: Ja, ich habe mich auch in Köln auf Neue Musik spezialisiert. Von 1971 bis 1973 war ich beim Studio Neue Musik und habe vor allem mit Stockhausen, ein bisschen auch mit Kagel, unter der Leitung von Aloys Kontarsky gearbeitet. Aber ich habe mich schon immer sehr für Neue Musik interessiert und habe dann auch beim israelischen Rundfunk eine Reihe von Sendungen darüber gemacht. Dann wurde ich Abteilungsleiter und hatte immer weniger mit der Materie zu tun, was ich zutiefst bedauerte. Als ich dann nach Deutschland zurückkam und Hauptabteilungsleiter beim Saarländischen Rundfunk wurde, musste ich feststellen, dass auch dort für mich die Möglichkeit, meine journalistische Tätigkeit fortzusetzen, leider kaum gegeben war. Der Hauptabteilungsleiter war im Saarland zu meiner Zeit auch Orches-terdirektor. Das ist eine unmenschliche Konstellation und meine Nachfolger haben das alle abgelehnt. Ich habe diese Aufgabe nur bewältigt, indem ich mich fast ausschließlich dem Orches-ter widmete und das Programm mehr oder weniger meinem Stellvertreter delegierte. Aber das war keine richtige Lösung für mich, weil ich Programm machen und mich nicht mit Disziplinar-Angelegenheiten und Dienstplan-Planung des Orchesters beschäftigen wollte.

nmz: Wohin ging es dann?

Rosengarten: Zunächst einmal bin ich 1990 zum Deutschlandfunk nach Köln gegangen, später zum RIAS nach Berlin. Zu dieser Zeit war schon klar, dass diese beiden Anstalten des Bundes zusammenkommen, weil sie durch die deutsche Wiedervereinigung vereinigt zum Deutschlandradio wurden. Ich habe alle Programmbereiche gehabt, auch Sendungen mit viel Text, die Zugang zu Werken vor allem der Neuen Musik verschafften.

nmz: Solche Sendungen sind heute eher die Ausnahme… 

Rosengarten: Ja, solche Sendungen werden zur Mangelware, und das ist sehr bedauerlich. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man Flächen braucht, die für Musik geeignet sind – im Idealfall, und dafür habe ich beim Deutschlandradio damals erfolgreich gekämpft – große Flächen, die ungetrübte Musiksendungen und Musik­übertragungen ermöglichen. Denn Live-Übertragungen von Konzertereignissen sind nötig, um das Musikleben in Deutschland widerzuspiegeln und das ist die Pflicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

nmz: Wie sehen Sie das heute?

Rosengarten: Das ist alles verschüttgegangen mit der Zeit, auch diese wunderbare Fläche, die ich bei der Gründung von Deutschlandradio erkämpft hatte.

nmz: Wie steht es mit Wort-Musiksendungen?

Rosengarten: Diese Art von Sendung ist die musikerklärende oder musikpädagogische. Was ich nicht aushalten kann, ist, dass man in den Musikübertragungsflächen – weil es Umbauten beim Orchester oder ungewollte Pausen gibt – den Hörer vollquatscht und dann noch zu allem Überfluss die Interpreten interviewt, die unter Stress stehen und entweder nichts zu sagen haben, oder sich nicht so konzentrieren können, dass sie in dieser Situation schlüssig und kurz irgendetwas Sinnvolles sagen. Da gibt es ein Blabla, das ich nicht ertrage. Die Rezeption gerade neuer Stücke verlangt von den Hörern eine geistige Arbeit. Das wird durch diese Ablenkung, durch dieses ewige Gequatsche erschwert.

Bei meiner ehemaligen Sendeanstalt Deutschlandfunk, komischerweise im Info- und Politik-Sender, gibt es allerdings noch immer fundierte Wort-Musiksendungen, die analysierend, in Form eines Features in die Tiefe gehen. Das ist manchmal sehr sperrig, aber das ist in Ordnung so.

nmz: Mancher sagt heute, das Radio sei nicht mehr zeitgemäß.

Rosengarten: Ich glaube, wir erleben eine Renaissance des oft totgesagten Mediums Hörfunk. Die Mobilität heutzutage, und die Tatsache, dass man Hörfunk auch über das Internet hören kann, sind eine Chance. Heute gibt es die Möglichkeit „on demand“, man muss ja nicht zeitgleich hören. Man braucht bei Live-Übertragungen oder bei Wiedergaben von großen Musikflächen auch nicht mehr unbedingt Texte. Die Zusatzinformationen kann man sich über das Internet holen.

nmz: Ist das nicht gerade das Gegenteil der Idee der Wort-Musiksendung mit Erklärungen oder pädagogischem Hintergrund?

Rosengarten: Wenn Sie wirklich konzentriert so eine Text-Musiksendung hören wollen, ist das eine ganz andere Situation. Ich glaube, die Differenzierung zwischen diesen beiden grundverschiedenen Typen ist zu wenig ausgeprägt und dadurch leiden beide Typen. Man muss auch den Mut haben, manchmal Stille im Rundfunk auszuhalten. Im Konzert gibt es auch stille Momente. „Es gibt keine Stille“, hat John Cage zu Recht gesagt. Man hört dann eben irgendwelche Geräusche, Musiker stimmen ein, Leute husten, im Publikum wird sich leise unterhalten, ein Klavier wird hin und her geschoben, das hört man alles. Ist das so schlimm? Überhaupt nicht!

nmz: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht immer stärker in der Kritik. Vielleicht teilweise zu Recht, so wie Sie es beschreiben, aber teilweise auch aus anderen, eher politischen Gründen.

Rosengarten: Das ist eine Gefahr für die Kultur insgesamt und eine Sache, die die Rundfunkanstalten nicht allein stemmen können. Natürlich stehen sie auch in Zwängen, weil sie öffentlich-rechtlich sind und die Ausgaben völlig zu Recht kontrolliert werden. Trotzdem enthebt es sie nicht der Pflicht, Inhalte zu pflegen und auch zu promovieren. Das machen sie auch soweit sie können, wobei im Bereich der eigenständigen Musikproduktion leider zu wenig passiert. Das wird aber nicht von der Politik, sondern von den Leitungsstellen der Rundfunkanstalten verhindert – aufgrund von Finanzzwängen.

Eine allgemeine „Kulturfeindlichkeit“ haben wir Gott sei Dank in Deutschland noch nicht. Aber das Bewusstsein für Kunst und Kultur nimmt ab. Man muss mit geeinten Kräften vorgehen. Alle Verbände, der Deutsche Musikrat, aber auch andere Kulturinstitutionen müssen versuchen, der Politik klar zu machen, dass in diesem Bereich kein wirklicher Kahlschlag passieren darf. Ganz besonders schlimm ist die Situation in Bezug auf die Kammermusik. Das ist eine gesellschaftliche Pflichtaufgabe. Denn die Erziehung zu Kammermusik ist, abgesehen von der musikalischen Komponente, gesellschaftspolitisch sehr wichtig. Da werden Tugenden wie Zuhören, Offenheit, Toleranz, Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft gepflegt. Ich glaube, das sind Tugenden, die unsere Gesellschaft unbedingt braucht.

nmz: Es gibt darüber hinaus auch die Tendenz, politisch Einfluss nehmen zu wollen auf die Kunstfreiheit, gerade auch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und zu sagen „Was uns nicht gefällt, wird nicht mehr gemacht“.

Rosengarten: Das habe ich so nicht erlebt. Ich kenne solche Situationen aus dem israelischen Rundfunk, wo ich gemaßregelt worden bin und es eine große parlamentarische Anfrage gab, weil ich die Chuzpe hatte, einen ganzen Akt aus dem „Tannhäuser“ zu senden, ohne dies vorher anzukündigen. Die Situation wird in Israel mit der Zeit leider unangenehmer. Denn die europäische Kultur ist bei der heutigen demografischen und daher auch politischen Situation in Israel weniger gewünscht. Da gibt es wirklich politische Einflussnahme, sodass jedes Stück, das Kritik an der gegenwärtigen Politik artikuliert, sofort als „nicht gewünscht“ erklärt wird. Diese Tendenzen sehe ich gottlob in dem Ausmaß in Deutschland noch nicht. Natürlich gibt es politische Parteien, denen bestimmte Tendenzen nicht recht sind. Das ist aber im demokratischen Diskurs legitim, solange es nicht von der Regierung kommt. Deutschland ist noch immer ein Land, in dem Kunstfreiheit groß geschrieben wird und ich hoffe, das bleibt auch so.

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