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Das Leipziger Ensemble Tempus Konnex rief zum Ensemblefestival – leider nur virtuell
Das Leipziger Ensemble Tempus Konnex rief zum Ensemblefestival – leider nur virtuell
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Im Digitalen ticken die Dramaturgie-Uhren anders

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Das Leipziger Ensemble Tempus Konnex rief zum Ensemblefestival – leider nur virtuell
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Vor dem zweiten Lockdown der Kulturveranstaltungen war es anders gedacht: Das erste Ensemblefestival Leipzig sollte in realen Begegnungen Fäden spinnen zwischen der Neuen Musik verschiedener Kontinente und Orte. Als sich die Pandemie im Herbst zuspitzte, wurden alle Veranstaltungen vom 19. bis zum 22. November in einen digitalen Zyklus umgeschichtet.

Die Konzerte und wissenschaftlichen Rahmenveranstaltungen aus China, Japan, Russland und Deutschland fanden bei Vimeo statt. Auch eine Achse zwischen dem Zentrum für Gegenwartsmusik (ZfGM) der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ und dem Werk2, einem Kulturzentrum an der Grenze zwischen der gentrifizierten Südvorstadt Leipzigs und dem durch Ausschreitungen berüchtigten Stadtteil Connewitz, legte man. Das Eröffnungskonzert zum Kultursalon des jedes Jahr im Herbst stattfindenden Kultursalons des ZfGM entfiel jedoch ersatzlos. Dessen nicht dem Ensemblefestival angegliedertes zweitägiges Symposium „Stimmkunst im 21. Jahrhundert“ fand als Online-Konferenz mit Publikum statt. Eineinhalb Wochen vorher war an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber das „Symposium zur zeitgenössischen Chor- und Vokalmusik im 21. Jahrhundert“ im Rahmen des Festivals zum 85. Geburtstag von Helmut Lachenmann in ein internes Treffen ohne Publikum umgewandelt worden.

Als Veranstalter des ersten Leipziger Ensemblefestivals treten das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig (FZML – Leiter: Thomas Christoph Heyde) und das Ensemble Tempus Konnex (Leitung: JiYoun Doo) auf. Das eigene Konzert von Tempus Konnex mit Werken von Michael Beil, Raphaël Cendo, Lisa Streich und Dmitri Kourliandski wird im Frühjahr nachgeholt. Neben dem Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher und den Nischenkonzerten des MDR im UT Connewitz und in der Schaubühne Lindenfels betreibt in Leipzig vor allem das Ensemble Konnex Netzwerkarbeit für die Neue Musik im mitteldeutschen Raum. Seit mehreren Jahren begleitet es zum Beispiel die Composer Masterclass von Annette Schlünz beim Impuls-Festival Sachsen-Anhalt.

Ein wichtiger Akzent des Ensemblefestivals war ein Kompositionswettbewerb, für den 243 Stücke aus 51 Ländern und 60 Nationalitäten eingingen. Die Jury entschied sich für Einsendungen, „die mit ihrer Musik eine eigene Sprache, einen eigenen Stil etablieren und damit etwas neues kreieren konnten“. Den dritten Preis erhielt Jug Markovic, den zweiten Preis teilen sich Rafael Rentería und Tobias Fandel, ein erster Preis wurde nicht vergeben. Deren eingereichte Stücke werden von Tempus Konnex in einem weiteren Frühjahrskonzert zusammen mit der Uraufführung von Oscar Bianchis „Sulfureo“ vorgestellt.

Ins Zentrum seines Basis­essays zum Festival 2020 setzte Thomas Dworschak die Spiegelungen des Eigenen im Entfernten und an jenen Konventionen eines ‚internationalen Stils‘ der Neuen Musik, der mit Idiomen verschiedener regionaler Traditionen angereichert ist. Dabei ging es nicht nur um Instrumentalfarben und musikalisches Material mit Signalen zum horizontalen Assoziieren und Dissoziieren, sondern auch um differenzierte Rezeptoren-Schwingungen in den Nischen zwischen Ratio, Intellekt und Emotionen: „Die Verfremdung und die Ironie, die sich ergeben, wenn Symbolwerte aufeinandertreffen, provozieren eine besondere Art der Erfahrung. Es dürfte nicht zu viel gesagt sein, wenn wir diese Erfahrung als neu und überraschend kennzeichnen. Das ist sie aber gerade deshalb, weil ihre Neuheit nicht allein klanglicher oder technischer Art ist.“ – so Dworschak. Die Verfremdung ergibt sich aus der Absorption von Material einerseits und andererseits durch die Spiegelung, durch die das Material in der Aneignung durch andere Kulturräume an seinen Ursprungsorten wahrgenommen wird oder wie eine Würdigung der Wahrnehmung seiner Veränderungen ‚funktioniert‘. Insofern wäre natürlich äußerst spannend, wie Enno Poppes „Prozession“, in der kaum oder gar keine Spuren einer transkontinentalen Musikpraxis erkennbar waren, in einem anderen soziokulturellen Klima rezipiert wird. Das Ensemblefestival fordert, wenn man die Themenstellung ernst nimmt, zu einer nachträglichen Auswertung der verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten heraus und sollte deshalb im Nachklang Stimmen und Meinungen einholen.

Akustische und visuelle Transparenz

Am Beginn einer durch die physischen Isolationen der Pandemie beschleunigten digitalen Revolution ist es für das ästhetische und kreative Sprachgemisch der Neuen Musik dringend nötig, sich mehr Gehör und Verständnis zu verschaffen. Technisch war das bei den gestreamten und bis Mitte Dezember mit Zahlfunktion aufrufbaren Konzerten des Ensemble ConTempo Beijing, des japanischen Ensemble NOMAD, des Moscow Contemporary Music Ensemble und des Ensemble Musikfabrik ausgezeichnet gelungen. Die akustische und zugleich visuelle Transparenz der Aufzeichnungen war wichtig, weil visuelle Wahrnehmungen sich zum Verstehen der Klangsprachen von aus europäischer Perspektive wenig vertrauten (chinesischen) Instrumenten und der atypischen Tonproduktion durch Standardinstrumente als hilfreich erwiesen. Die internationalen Ensembles brachten in kleinen Besetzungen kürzere Stücke zu Gehör. Das Ensemble Musikfabrik setzte, begünstigt durch den ersten Lockdown, mit der Uraufführung der fast einstündigen Partitur „Prozesse“ von Enno Poppe den Akzent auf ein langes Werk in Einheiten von episch fließenden Teilen. Das in andauernd homogener Dynamik sich ähnelnde Ton- und Instrumentalwellen entsendende Opus zeigte Irregularität ohne mauerartige Zäsuren.

Trotz technisch guter Streaming-Qualitäten bleibt das Digitalformat für alle erklungenen Werke eine Notlösung. Präzise, respektvoll und mit ständigem Blick in die Noten agieren die Musiker. Bei Naheinstellungen war deutlich zu erkennen, dass die Interpreten in der erforderlichen Konzentration auf die großen spieltechnischen Anforderungen (noch) keine persönliche Haltung zu den Werken entwickeln konnten. Auch wenn schon das eine starke Leistung ist: Von der korrekten Ausführung gingen in den wenigsten Fällen sinnliche Impulse zu Sinn, Anatomie und den imaginären Stoffwechseln der Musik aus. Zugänge ergaben sich aus der jeweils individuellen Form wie in „Oud“, einem Doppelkonzert für Marimba, Klavier und Ensemble von Malika Kishino. Dialoge und Klangfarben-Narrative entwickelte Kishino auf dem Umweg über die anderen Stimmen, zumal die Soloinstrumente abwechselnd auch koloristische Begleitfunktionen erfüllten. Spannend im chinesischen Programm war die Themenklammer ‚Wind‘ im meteorologischen und metaphorischen Sinn. Als für die digitale Betrachtung am wenigsten affin erwies sich die Konfrontation der Bassklarinette mit sich aufbäumender Elektronik in Vera Ivanovas „Electrostatic Whale“ (2016). Die performative Dramatik zwischen Mensch und Technik verliert im digitalen Kontext generell an Wucht und Eindringlichkeit, Das gilt für die synthetischen Imitationen des Prinzips Wal(-fisch) im Stück genauso wie für die Versiertheit des ‚echten‘ Musikers. Generell fiel eine international bemerkbare Verliebtheit in filigrane Obertonharmonien mit den Kenntnisstand der Ohren überlistenden Instrumentalverbindungen auf. Immer wieder schien im artifiziell Konstruierenden eine Sehnsucht der absoluten Musik nach vegetativen Phänomenen durch – etwa in Naoki Sakatas „Spores II“ (2019). Die Komposition huldigt der anwidernden Schönheit des Pilzbefalls auf Lebensmitteln und illustrierte diesen mit staubtrocken komponierten Wellen, als handle es sich um den artifiziellen Soundtrack zu einem EKG.

Mehrperspektivisches Hören

Am eindrucksvollsten verdichtete sich das konzeptionelle Programm des ersten Ensemblefestivals im japanischen Konzert mit Yukiko Watanabes „Cities and Memory“ (2019) für Flöte, Klarinette, zwei Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass, präpariertes Klavier und Percussion – da fanden fernöstliche Kreativität und europäisch konditioniertes Hörerlebnis für eine Deutung mit mindestens doppeltem Boden zusammen. Vertraut scheinende Kadenz-Akkorde und rasselnde Holzbläser ließen an eine Promenade durch leere Straßen ohne allzu emotionale Überwältigungen denken. Was wäre aber, wenn dieses visuelle Programm aus japanischer Perspektive ganz anderen emotionalen Gesetzmäßigkeiten und Bildwelten folgen will? Diese angedachte Möglichkeit führt weg von der Ironie durch die Spiegelung vertrauter Strukturen und reißt die Aufmerksamkeit in den Versuch eines mehrperspektivischen Hörens.

Jenes Etappenziel des ersten Ensemblefestivals, das auf alle Fälle eine weitere Ausgabe erhalten wird, hat man also erreicht. Das enthebt die Macher allerdings nicht einer ernstlichen Herausforderung: Dass die dramaturgischen Uhren in den digitalen Foren anders ticken als beim physischen Direktkontakt, hat sich in den konventionellen Konzert-, Musiktheater- und Tanznischen bereits herumgesprochen. Dieser Erkenntnis sollten sich die Akteure der Neuen Musik nicht verschließen. Am Spannungsbogen und am etwas sterilen Digitalambiente der Aufzeichnungen darf also gerne noch etwas gebastelt werden. Dafür funkten und funkelten einzelne Werke und Rahmenveranstaltungen dieser bemerkenswerten, fast globalen Aufstellung glänzend.

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