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Immer das Problem mit der Ästhetik

Untertitel
Ein offener Brief des Komponisten Thomas Buchholz an den Kollegen Moritz Eggert
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Lieber Moritz Eggert,
das ist ein spannendes Thema, das im Leitartikel der nmz vom Dezember 2021 anklingt. Ich kann die Ausgangssituation des Artikels aus eigenem Erleben bestätigen. Ob Freunde, die Familie, Bekannte oder einfach nur Konzertbesucher, gleich welchen Geschlechts, alle sprechen davon, dass sie die neue Musik nicht verstünden. Deine Antworten sind ebenso, wie ich sie auch noch vor Jahren voller Überzeugung artikulierte: Da gab es die „liedlose Zeit“ um zwei Weltkriege gruppiert, nach der plötzlich eine derart drastische Veränderung der Tonkunst stattgefunden habe, nach der der Musikkonsument die Musik nicht mehr verstehe? Oder die Musikgeschichte weise Sprünge in der Kontinuität auf, die bereits für die Musik des späten 19. Jahrhunderts eine un¬verständliche Ästhetik hervorgebracht habe. Die Argumente sind müßig, klingen je nach Sprachstil entweder belehrend, wie eine Entschuldigung oder wie ein Antrag auf Existenzberechtigung des eigenen Schaffens.

Chagall und van Gogh

Was jedoch in dieser Diskussion wie ein Leitstrahl wirkt, ist die Bemerkung, dass Menschen das Kunstwerk nicht verstehen können. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass es Menschen gibt, die mit gegenwärtiger Kunst nichts anzufangen wissen und womöglich ein Bild von Chagall für die Darstellung eines Blechstreuselkuchens halten. Dann ist da auch die merkwürdige Anekdote über das berühmte Bild von van Gogh mit den Sonnenblumen, welches ein amerikanischer Milliardär erwerben würde, wenn der Maler es mit roten Blumen gestalten könne, damit es farblich zur Wohnungsausstattung des Käufers passe.

Für mich ergibt sich hier nicht nur die Problematik der Bildung und der Kunstsinnigkeit des Publikums. Nun kommt mir die Fragestellung auf: Was heißt es, ein (musikalisches) Kunstwerk zu verstehen? Das ist wohl die zentrale Frage. Ist nicht das modisch gewordene und durch Kunstpädagogen wollüstig aufgesogene „Kunst-er¬leben-Lernen“ das Gleiche oder nur ein ähnliches Problem? Hier entsteht ein Knäuel an Gedanken und man ist mitten in der Ästhetik-Diskussion. Es kristallisiert sich demnach eine Frage der Anschauung der Dinge und Erscheinungen heraus.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wir wissen kaum präzise genug, was die Hörer von Musik vergangener Zeiten „verstanden“ haben, um formulieren zu können, dass historische Musik in ihrer Zeit besser verstanden wurde als die Musik unserer Zeit.

Und letztlich darf uns die Fragestellung quälen, was denn die „Musik unserer Zeit“ ist. Wenn man alle Spitzfindigkeiten herausnimmt, die in der ästhetischen Diskussion entstehen, müsste man sagen, dass es alle Musik ist, die in der Gegenwart entsteht. Oder ist es vielleicht noch umfassender alle Musik, die entsteht und jene, die konsumiert wird?

Exkurs GEMA

Das ist die Manifestation aller bisher aufgeworfenen Fragen. Zunächst teilt die GEMA alle urheberrechtlich relevante Musik in zwei Kategorien ein: die U-Musik, was die Bezeichnung Unterhaltungsmusik abkürzt, und die E-Musik, was ernste Musik sein soll. Was in der ernsten Musik allerdings den Ernst definiert, ist schwer zu sagen. So mancher gnadenlose Blödsinn wird auch als E-Musik geführt und so mancher anspruchsvolle und kaum der bloßen Unterhaltung erdachte Titel ist U-Musik. Im Umgang mit diesen Kategorien passieren also recht verwunderliche Bewertungen von Musikwerken. Man hat einen Werkausschuss bei der GEMA eingesetzt, der bei offenen Fragestellungen tätig wird und eine mehr oder weniger logisch nachvollziehbare, weil empirische Entscheidung fällt. Dieses Wunderurteil aus dem Niemandsland der Unwissenden kann dann auch nur auf Antrag des Aufsichtsrats außer Kraft setzen, was er freiwillig nicht gern tut.

Einen besonderen Leckerbissen liefert die Fragestellung, ob eine Oper Mozarts U- oder E-Musik ist. Es geht um eine Bearbeitung für Kindermusiktheater. Dass die Musik Mozarts im Original zweifelsfrei ernste Musik ist, wird kaum jemand bestreiten. Um sie jedoch für Kinder zu bearbeiten, sind gewisse Eingriffe nötig, die eine solche Verwendung möglich machen. Laut dem oben genannten Werkausschuss der GEMA mutiert die kategoriale Zuordnung von E nach U. Und weil das eigentlich musikwissenschaftlich nicht erklärbar ist, schuf man die Einstufungskategorie „gehobene Unterhaltungsmusik“, was den Unfug nur noch potenziert. Man merkt, wenn man eine Definition dieser Begrifflichkeit versucht. Auch dieses Oben und Unten von Musikwerken, was die sprachliche wie gedankliche Grundlage dieses Begriffes ist, macht nachdenklich oder verwundert. Lassen wir diesen Exkurs. Die GEMA trägt keine Schuld an der von ihr produzierten Ver(w)irrung.

Musik unserer Zeit

Also die „Musik unserer Zeit“ ist ein schwer zu definierender Begriff. Moritz Eggert meint aber nicht alle zeitgenössische Musik, er meint die so benannte neue Musik, die der gebildete Avantgardist oder Musikologe großschreibt, also Neue Musik. Worüber Eggert nicht spricht, ist die Frage nach der Bezeichnung „Neu“. Also spart er den Begriff mit einem seismischen Gespür für musikwissenschaftliche Erdbeben zumeist aus. Mich würde aber schon interessieren, ob dieses kategoriale Neu eine temporale oder eine qualitative Verortung von Musik meint. Da es zwei Bedeutungen mit ernsthaften Konsequenzen sind, gibt es zwei gegeneinander aufgestellte Lager. Im GEMA-Werkausschuss dominieren momentan die Leute, die eine qualitative Komponente feststellen möchten. Das geht eigentlich sehr einfach über das Absuchen einer Kompo¬sition nach Elementen, deren zeitliche Zuordnung in die Vergangenheit ver¬weist oder böserweise als Strukturen von U-Musik abgewertet wird. Das ist nach meiner Überzeugung eine derart simple Rasterung des Denkens, die unmodern wirkt, weil heutige Denkstrukturen sich gerade von solch billigen Kurzschlüssen befreit haben. Man findet sie in unserer Gegenwart zumeist bei Extremisten aller Art.

Hier stockt mein Wortfluss, weil die Gedanken einen Endpunkt erreicht haben. Moritz Eggert traf den Nerv der Zeit. Warum empfindet der Großteil der klassischen Konzertbesucher seit weit über einhundert Jahren die gegenwärtigen Kompositionen aus der Kategorie E-Musik als unverständlich? Was wollen die Leute denn verstehen? Da gibt es im Bereich der rationalen Intelligenz nichts zu verstehen, was emotional einen Zugang bringen würde. Maximal findet man solche analytischen Erklärungen von Musik interessant. Ich kann auch das Strickmuster eines Pullovers interessant finden. Trotzdem muss er mir nicht gefallen und ob der mir passt, ist auch keine Frage des mehr oder weniger interessanten Strickmusters. Schon zu DDR-Zeiten habe ich erlebt, wie Musikwissenschaftler, als Konzertdramaturgen angestellt, mit komplizierten und für das Konzertpublikum kaum verständlichen Einführungstexten NEUE Musik in der technischen Beschaffenheit zu erklären suchten. Wie sehr kann ich nachvollziehen, dass insbesondere solche Texte neue Musikstücke mit einem „Unverstehbarkeits-Virus“ infizieren. Der lässt sich sehr schnell auf alle neuen Musikstücke übertragen. „Neue Musik verstehe ich nicht.“

Seit Zeiten von Heinrich Schütz haben die Menschen an Erklärungen der Musik gearbeitet. Mit Beginn des Generalbasses kommen auch die sogenannten musikalisch rhetorischen Figuren. Man hat hierbei versucht, bestimmte musikalische Floskeln (Figuren) be¬stimmten Ausdrucks-Inhalten zuzuordnen. Genauer gesagt komponierten die Komponisten bei der Ausdeutung von (zumeist biblischen) Texten zur Verdeutlichung von Textaussagen mit solchen bedeutungsschwangeren Figuren. Somit wird das Problem deutlich, das viel später in der Romantik der Wiener Universitätsprofessor Eduard Hanslick in der kleinen Schrift „Vom Musikalisch Schönen“ aussprach: Musik hat keinen Inhalt! Im Gegensatz zu den Bildkünsten reflektiere die Musik nur auf sich selbst.

Offenbar ist diese Autonomie-Ästhetik bis heute der Grund für so manche Verwirrung im Umgang mit Musik. Vor allem die Pädagogik steht in täglichem Nahkampf mit der Ästhetik. Dabei liefert die Schulmusik unvergleichliche Auswüchse an Hermeneutik. So glauben die meisten Pädagog*innen daran, dass Bildung über Erklärung funktioniert. Ein sehr fragwürdiger Ansatz. Beim Kennenlernen von Musikwerken aller Zeiten geht es immer um eine Projektion von Inhalt, über die das Musikwerk aus sich selbst heraus oder durch bewusste Setzung des Komponisten oder der Komponistin „spricht“. In der Grundschule fängt das mit dem Gleich¬setzen der Tiere mit bestimmten Instrumentalklängen an. „Die Flöte ist der Vogel (Die Vlöte ist der Fogel.)“, erklärt die Musiklehrerin oder der Musiklehrer bei der Behandlung des musikalischen Märchens „Peter und der Wolf“. (Lt. GEMA das meistgespielte Orchesterwerk 2020 in der Kategorie E-Musik! – Folgt man den Gedanken des Werkausschusses wäre das Stück gehobene Unterhaltungsmusik.)

Vögel und kein Wasser

In der Mittelstufe kommt eine Musiklehrerin ins Schwitzen. Ein kleines Mädchen widerspricht: „Nein, ich habe die Flöte gehört und es sind Vögel und kein Wasser!!!“ Die Lehrerin hatte den Beginn der „Moldau“ eingespielt. Die übliche ästhetische Frage an die Kinder: „Was sagt uns der Komponist mit seiner Musik?“ Klar ist für die Lehrerin, dass Smetana mit den schnellen Flötenfiguren das Plätschern des Quellbaches verdeutlichen möchte. Und diese Deutung zu vermitteln, ist nach Stoffplan eines der Unterrichts¬ziele. Aber was ist schiefgelaufen? Die Lehrerin mit ihrer Hermeneutik, mittels derer alles und jedes mit musikfremdem Inhalt verbrämt wird, hat sich bei diesen Stücken selbst ein Schnippchen geschlagen. Gegenversuch: Man spiele Kindern „Peter und der Wolf“ ohne die Texte des Sprechers vor. Man frage sie nach dem, was sie hörten. Plötzlich geht es um die eigentliche Musik und damit um die Fähigkeiten zur Vorstellung, zur Fantasie und zur Kreativität als Ergebnis von Problemlösungsprozessen. Also nicht dem Unfug von Kreativwerk-stätten, bei denen es gar nicht um die Entwicklung von Kreativität geht, weil die Aufgabenstellungen an fremden Vorgaben haften. Das Kind verspürt immer einen Konflikt, es möchte anerkannt sein und erfüllt die Wünsche der Erwachsenen. Es lernt, dass die Flöte der Vogel sei und nicht; „Welche Instrumente würdet ihr ein¬setzen, um das Gezwitscher des Vogels nachzuahmen?“

Deftiges Problem

Musik verstehen ist also schon in der Schule ein deftiges Problem. Wie will man eine Fuge erklären? Sicherlich technisch über die Analyse. Textlose Musik ist etwas ganz Problematisches, weil sie keine Deutungen liefert. Man lese einmal die methodischen Hilfswerke, die diverse Verlage für den Musikunterricht anbieten. Zumeist jagt da eine Peinlichkeit die nächste. Beethovens Fünfte lässt das Schicksal an die Pforte klopfen, als ob das Hauptmotiv eine rhetorische Figur aus der Figurenlehre der Schütz-Zeit sei. Und das passiert in der Mittelstufe im Musikunterricht. Ich habe ein tiefes Verständnis für jede Schülermeinung, die Unverständnis signalisiert. So durchzieht ein hermeneutischer Schleim jede Chance auf ein aus der Musik selbst erwachsendes Kunstverständnis. Wie gesagt, Musik ist jene Kunst, deren Substanz sich nur aus sich selbst heraus erklärt!

Und nun die Eingangsfrage von Moritz Eggert: Was sage ich einem Menschen, der vorgibt, meine Musik nicht zu verstehen? Ich habe keine Antwort, die man wie ein Strickmuster verwenden könnte. Wenn du anfangen musst Menschen über Erklärungen Dinge zu vermitteln, die der emotionalen Intelligenz zuzurechnen sind, dann hat die Kunst verloren. Wer nicht gelernt hat, Vorstellungskräfte und Fantasie zu entwickeln, der braucht eine Generalinventur seiner ästhetischen Bildung. Diese schließt nach Schillers weltberühmten Briefen die Fähigkeit des Spielens ein, denn „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen)

Wer also verstehen will, was fantasievoller, spielerischer Umgang mit dem Material der Musik bedeutet, der braucht die Erfahrung des kreativen Spielens seit früher Kindheit und einen guten, weil anregenden Musikunterricht. Ich bin davon überzeugt, dass die beklagte Situation aufzulösen ist, wenn man das Bildungsmonopol des Staates bricht. Denn nur durch dieses entsteht jene Eintönigkeit eines erlebnisunfähigen Maschinenmenschen, weil alle Individuen durch das gleiche staatliche Bildungsraster gezogen werden, individuelle Begabungen im Massenbetrieb der Staatsschule kaum zu fördern sind und ohne Individualität die Welt an ihrer Einförmigkeit zugrunde geht.

Die Problematik mit der Verstehens¬bremse ist keine ausschließliche der Neuen Musik, es ist ein Problem der ge¬samten Kunst(musik). Und es wird immer wieder neu verursacht von einem beklagenswerten Missverständnis in der Schulmusik, wo die Auseinandersetzung mit dem Musikwerk deren Erklärung bedeutet. Wer so Musik lernt, muss glauben, dass ihr Sinn der ist, ihren vermeintlichen Inhalt zu erklären. Ein Armutszeugnis an die Fantasie und das Vorstellungsvermögen.

 

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