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Titelbild 1. Preis bei “Jugend musiziert“ 2005: Leonie Lubczyk, Eva Leonie Fegers und Silvia Backhaus spielen „Articulator“ von Agnes Dorwarth. Foto: Erich Malter
Titelbild 1. Preis bei “Jugend musiziert“ 2005: Leonie Lubczyk, Eva Leonie Fegers und Silvia Backhaus spielen „Articulator“ von Agnes Dorwarth. Foto: Erich Malter
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Jugend friert

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Den ersten „Dritten Preis“ des diesjährigen Bundeswettbewerbes ”Jugend musiziert“ errang direkt beim Eröffnungskonzert ein Percussion-Ensemble, das gar nicht angemeldet war: Mit einem Paukenwirbel trommelte sich Musikrats-Präsident Martin Maria Krüger nach einer Partitur des Verbandes deutscher Musikschulen und bestens begleitet von Familien-Ministerin Renate Schmidt an der Finanz-Harfe in die Herzen der Zuhörer. Die Jury war sich einig: Endlich hatte Deutschlands Musik-Cheflobbyist Krüger mal Klartext dargeboten und zwei kulturfeindlich agierenden deutschen Gemeinden die Freundschaft und die gemeinsame Zukunft gekündigt.
Ausgerechnet die Veranstalter-Städte des vorjährigen Bundeswettbewerbes Trossingen und Villingen, die sich selbst gern und laut mit dem Prädikat „musikanten-freundlich“ oder gar „Musikstadt“ schmücken, gehen mit ihren Musikschulen um, wie die Abrissbirne mit dem Altbau. Der Grund: natürlich die Finanzen. Villingen-Schwenningen will seinen Musikschul-Etat ohne Rücksicht auf Verluste, Personal oder Qualität in ein fixes, viel zu schmales Etatbett pressen. Bei einem Gesamtetat von knapp 180 Millionen Euro ist der „Wohlfühlstadt“ die Musikschule mit ihren fast 1.500 Schülern grade noch 340.000 Euro wert. Zur Rentabilisierung, zur Profit-Optimierung sind alle Mittel recht – bis hin zur möglichen Umwidmung des Institutes in ein Wellnesszentrum oder Tourismusbüro.

Assistenz erhält diese Barbarei jetzt ausgerechnet von der Trossinger Musikhochschule. Die will den Nachbarn ihre Studenten als Billigst-Lehrkräfte zur Betreuung eines potenziellen musikpädagogischen Sparschweine-Stalles andienen. Ob sich der Rektor Jürgen Weimer Gedanken darüber gemacht hat, dass er mit solcher Lohndumping-Politik künftige Berufsfelder der ihm anvertrauten Studierenden-Klientel gründlich verwüstet? Welches Bildungs-Verständnis herrscht in einem Haus, das Eltern zumuten will, ihre Kinder als Crashtest-Dummies für unfertige Musiklehreraspiranten bereitzuhalten? Wenn ein Musik-Ausbildungsinstitut hierzulande überflüssig ist, dann eines mit solchem Geist.

Auch mit ihrer eigenen Musikschule springt die „Musikstadt“ Trossingen nicht gerade zimperlich um. Der Vorsitzende des Träger-Verbandes, Trossingens Bürgermeister Lothar Wölfle, zieht alle fiesen Register oberschwäbischer Knickerigkeit, um möglichst viele Lehrkräfte aus der Festanstellung ins freie Kräftespiel der demnächst christsozialen Marktwirtschaft zu treiben. Billigheimer bekommen faire Honorarkraft-Chancen. Damit reiht sich Wölfle windschnittig ein in die Riege zeitgeistiger Möchtegern-Kulturökonomen, die ebenso vorlaut wie inkompetent dafür Sorge trägt, auch unsere Bildungseinrichtungen der binären Ästhetik von Vierteljahres-Bilanzen und aktueller Geiz-ist-geil-Philosophie zu unterstellen.
Früchte tragen solche Manipulationen schon reichlich. Zur Nachmittagsbetreuung unserer Kinder an Ganztagsschulen ist geeignet, wer noch laufen kann und wenig kostet. Der Prokurist aus dem Einkaufszentrum nebenan gibt den deutlich besseren weil praxisorientierten Gymnasiallehrer ab. Bachelor- und Master-Studiengänge sollen die flotte Industrie-Kompatibilität der Uni-Absolventen befördern. Man fühlt sich mit Blick auf unsere Bildungsplanung an Michael Endes „Momo“ erinnert: Überall graue Männer auf dem Vormarsch. Wie lange lassen wir uns die wohlberechnete Dis-Qualifizierung unserer Kinder noch gefallen?

Es waren erste richtige Signale, als Martin Maria Krüger den „Sonderpreis“ der Stadt Villingen-Schwenningen im Namen von “Jugend musiziert“ zurückwies, als Renate Schmidt samt Ministerium spontan einsprang. Einen „Ersten Preis“ in der Sonderwertung „Zeitgenössische Musik“ für das Ensemble „Krüger haut auf die Pauke“ gibt’s aber frühestens, wenn sich die politische Effizienz des Deutschen Musikrates auf so hohem Niveau stabilisiert hat, wie es die Teilnehmer am diesjährigen Bundeswettbewerb “Jugend musiziert“ – sicherlich auch dank eines noch fast flächendeckend funktionierenden Musikschulwesens – auf allen Bühnen bewiesen. Das kann noch ein wenig dauern.

Reaktionen:

Lösung für Musikschule Villingen-Schwenningen
Gemeinsame Erklärung von VdM Baden-Württemberg und Musikhochschule Trossingen

Qualität statt Crash-Test
Hochwertiges pädagogisches Konzept für V-S

Leben Beamte im Personalamt im Wolkenkuckucksheim?
Leserbriefe zu Theo Geißlers Editorial „Jugend friert“, nmz 6/05, Seite 1

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