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Ludwig Wittgenstein: Betrachtungen zur Musik. Aus dem Nachlass zusammengestellt von Walter Zimmermann, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 253 S., Abb., Notenbsp., € 25,00, ISBN 978-3-518-22530-1
Ludwig Wittgenstein: Betrachtungen zur Musik. Aus dem Nachlass zusammengestellt von Walter Zimmermann, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 253 S., Abb., Notenbsp., € 25,00, ISBN 978-3-518-22530-1
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Klingende Sprachspiele

Untertitel
Walter Zimmermann hat die Anmerkungen Wittgensteins katalogisiert
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Dieses Buch ist vor Missverständnissen nicht gefeit. Das mag am Titel liegen: „Betrachtungen zur Musik“. Raumgreifende Erörterungen zum Wesen der Musik (wie wir sie im Zuge umfangreicher ästhetischer Betrachtungen bei Hegel oder Schopenhauer finden) gibt es bei Ludwig Wittgenstein aber nicht. Ein Umstand, der umso mehr verwundert, als Wittgenstein selbst ein profunder Musikkenner und Amateur-Musiker (Klarinette) war.

Verstreute Betrachtungen und aphoristische Anmerkungen zu elementaren musikalischen Topoi und vor allem: musikspezifische Analogien in der Veranschaulichung sprachphilosophischer Phänomene und Problemfelder existieren in seinen Schriften jedoch zuhauf. Der Komponist Walter Zimmermann hat sie in langjähriger Kärrnerarbeit zusammengetragen und ist dabei den zwanzigtausend-seitigen Nachlass Zeile für Zeile durchgegangen, auf der Basis der Transkriptionen des Wittgenstein-Archivs an der Universität Bergen. Er hat das undurchdringliche Materialkonvolut abgeklopft auf Begriffe, Motive und Zusammenhänge, die manchmal mehr, manchmal weniger direkt mit Musik zu tun haben, aber innerhalb grundlegender Erörterungen der Zusammenhänge von Wahrnehmen, Denken und Sprechen stets auf sie verweisen.

Man hätte dieses Kompendium also vielleicht auch „Betrachtungen mit Musik“ nennen können oder „Musikalische Begrifflichkeiten im Denken Ludwig Wittgensteins“, wäre es dem Vorsatz einer wissenschaftlichen Untersuchung gefolgt. Die von Wittgenstein aufgegriffenen musikalischen Begriffe hat Zimmermann weitestgehend unkommentiert alphabetisch geordnet und in teils zentrale Oberbegriffe sortiert: „Formtypen“, „Gesang“, „Hören“, „Harmonik“, „Instrumente“, „Musik“, „Noten“, „Takt“, „Töne“, um hier nur einige wesentliche zu nennen. Das verleitet zum angeregt ziellosen Umherstreifen, das dann manchmal einer Schatzsuche gleicht, bei der man in so manchen der fragmentarischen Exzerpte fast nichts und dann wieder echte Fundstücke entdeckt: „Ja läßt sich überhaupt ein Grund angeben, warum die Harmonielehre ist wie sie ist? Und, vor allem, muß sich so ein Grund angeben lassen?“ Oder wenn Wittgenstein 1943 eine krakelige Linie zieht und fragt: „Könnte es nicht eine Komposition geben, von der sich zeigen ließe, daß sie, in irgendeinem wichtigen Sinne, dieser Linie entspräche?“

Nicht an jeder Stelle leuchten die „Einkategorisierungen“ der Begriffe inhaltlich ein, insbesondere, wenn auch das gerade verhandelte Thema ein eigentlich musikalisch deutbares ist. So ist zum Beispiel ein Abschnitt über das Hören bei „Instrumente“ eingeordnet, nur weil einmal das Wort Klavier darin vorkommt, ein Abschnitt zur musikalischen Ironie unter „Formtypen“, weil das Wort „Fugato“ auftaucht. Solcherart Beispiele gibt es viele. Und oft geht es dort nicht explizit um die von Zimmermann herausgefilterten Begriffe und deren Inhalte, sondern dient ihr Assoziationspotential zur Erhellung musikfremder Kontexte im Sinne der Analogie. Vieles wiederholt sich da unterm Strich und taucht in unterschiedlichen Rubriken immer wieder neu und manchmal ermüdend auf, aber am Ende sind diese unvermeidlichen Redundanzen Teil des Verstehensprozesses oder, um mit dem Herausgeber zu sprechen, um es „in ihren verschiedenen Bedeutungsfacetten immer wieder von neuem zu durchdenken“.

Expliziter um die Musik geht es in den Passagen, die in der Rubrik Komponieren/Komponisten enthalten sind. Sie machen deutlich, dass Wittgenstein in den 1930er- und 40er-Jahren (aus denen das Gros der Textpassagen stammt) mit den Entwicklungen der musikalischen Moderne nichts am Hut hatte und musikästhetisch der Geistes-Welt des 19. Jahrhunderts verbunden blieb: Beethoven und Brahms heißen die Groß-Komponisten Wittgensteins, auch Schubert, Mendelssohn, Bruckner und Wagner werden diskutiert. Und eine geradezu hasserfüllte Abneigung gegen Mahler wird sichtbar, deren Negativbefund aber unfreiwillig einen Nerv trifft: „Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den eigenen Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht mehr Echtes von Falschem unterscheiden kann.“ Für Wittgenstein, das wird immer wieder aus den unterschiedlichsten thematischen Blickwinkeln in diesen Aphorismen deutlich, blieb der „Sprachcharakter“ der Musik unbestritten, war ihr Zeichen- und Artikulationssystem verbunden mit den Charakteren und Formgefügen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik, wenngleich auch sie wie alle „Sprachspiele“ kontextuell und subjektiv flexibel bleibt in ihren Deutungen und Wirkungen.

Dabei geht Wittgenstein immer wieder auf die inhärente Musikalität des Sprechaktes selbst ein, was sich insbesondere in seinen Erörterungen zum Gesang offenbart. Auch das synästhetische Potential des Klingenden zieht sich wie ein roter Faden durch diese Betrachtungen. Nicht immer fällt es leicht, den dekontextualisierten Fragmenten zu folgen, angesichts Wittgensteins oft sperriger, mathematisch durchdrungener Ausdrucksweise. Aber ist das eigentlich ein Problem? Zum einen entsteht in der Summe trotzdem ein vielschichtiges Mosaik von Wittgensteins sprachphilosophischem Denkkosmos; vor allem aber können diese Bilder und Geistesblitze selbst als eine Form von Poesie gelesen werden, deren Wesen in einer Mischung aus Ernst und Experiment rezipiert werden kann. Ganz so wie Wittgensteins eigene Sprache in ihrer logistischen Akrobatik stets etwas Spielerisches und immanent Offenes in sich trägt …

Insofern schließt Zimmermanns Wittgenstein-Buch nicht nur eine editorische Lücke, sondern erscheint als faszinierende Materialsammlung am Rande der Literatur.

  • Ludwig Wittgenstein: Betrachtungen zur Musik. Aus dem Nachlass zusammengestellt von Walter Zimmermann, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 253 S., Abb., Notenbsp., € 25,00, ISBN 978-3-518-22530-1

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