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Beim „Karneval der Nervösen“ trat ein „Krampforchester“ auf. Foto: R. Sbrzesny
Beim „Karneval der Nervösen“ trat ein „Krampforchester“ auf. Foto: R. Sbrzesny
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Krampfmusik und Weißes Rauschen

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Raphael Sbrzesny lehrt an der Hochschule für Künste Bremen „Kreation und Interpretation“
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Die Hochschule für Künste Bremen ist etwas Besonderes in der deutschen Landschaft der Musik- und Kunsthochschulen: Sie vereinigt die Gebiete „Musik“ und „Bildende Kunst“ mit den Sparten „Design“ und „Digitale Medien“. „Das macht die Arbeit spannend“, sagt der Künstler und Musiker Raphael Sbrzesny, der seit August 2018 die Professur für Kreation und Interpretation mit den Schwerpunkten Sound, Performance und Konzept innehat. Sie ist auf fünf Jahre angelegt.

In der von Sbrzesny im Speicher XI der HfK eingerichteten „Interpretenkammer“ treffen Studierende aller Fächer aufeinander. Bei dieser „Kammer“ handelt es sich um ein 100 Quadratmeter großes, sieben Meter hohes Studio, das wie ein Atelier wirkt. Es ist isoliert, so dass Musiker darin gut proben können. „Eine solche Arbeitsmöglichkeit findet man sonst fast nur am Theater“, sagt Sbrzesny. Wobei die „Interpretenkammer“ mehr als eine Werkstatt ist, wo musiziert, gebaut oder wo Hängungen ausprobiert werden. Sie ist zugleich Labor, Experimentierbühne und „Denkort“: „Im Wintersemester lasen wir hier Texte und diskutierten.“

Die „Interpretenkammer“ soll auf lange Sicht eine neue Form der Kollaboration ermöglichen. Im vergangenen Wintersemester ließen sich darauf rund 40 Studierende ein. Was Sbrzesny beachtlich findet. „Wenn man das im Vergleich zu anderen Theorieseminaren setzt, ist das viel“, so der Musiker, der an verschiedenen Hochschulen Neue Musik, Klassisches Schlagzeug, Populäre Musik und Kammermusik studierte.

Bei etwa jedem vierten Teilnehmer an den Angeboten der „Interpretenkammer“ handelte es sich um einen Studierenden der Musiksparte an der HfK oder um einen Musikstudierenden auf Lehramt der Bremer Uni. „Alle Studierenden bewegen sich in einem kreativen Feld, dennoch sind die Denkansätze und Produktionsweisen im Detail sehr verschieden“, so Sbrzesny. Dass jeder andere Erfahrungen hat, macht die Kollaboration so spannend.

Raphael Sbrzesny ist Anhänger einer „emanzipierenden Form der Lehre“. Simple Wissenstransfers lehnt er ab: „Es ging in der ‚Interpretenkammer’ also nicht um die Frage, was etwa die Musik von dem, was sie weiß und kann, der Bildenden Kunst vermitteln könnte“. Oder umgekehrt. Um der Falle „Ich weiß was, was du nicht weißt, und das geht so...“ zu entgehen, kam Sbrzesny auf die Idee, eine Thematik in den Mittelpunkt zu stellen, die erst einmal weder in der Kunst, noch in der Musik direkt beheimatet ist.

„Karneval und Depression“ lautete der Arbeitstitel eines der Seminare, dessen Ergebnisse unter der Überschrift „Karneval der Nervösen“ bei den Hochschultagen im Februar vorgestellt wurden. Im Mittelpunkt stand die Beobachtung, dass der Körper des einzelnen derzeit unter einem extremen Druck zu stehen scheint. Erkennbar wird das an Symptomen, die mit Begriffen wie „Burnout“, „Erschöpfung“ oder „Unruhezustände“ diskutiert werden. Offenbar „stockt“ die Nervosität in „Körpern unter Druck“, sie kann nicht mehr abgeführt werden.

Das Praxisprojekt wurde in der Art einer „Offenen Klasse“ realisiert. „Wir arbeiteten zu Beginn des Semesters intensiv theoretisch“, so Sbrzesny. Daran nahmen rund 15 Studierende Teil. Zur Mitte des Semesters kamen Studierende aus zwei anderen Seminaren dazu, die Sbrzesny im Wintersemester angeboten hatte. Die Gruppe wuchs auf 25 junge Künstler an.

Die Studierenden beschäftigten sich mit der Karnevalstheorie des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin. Der schuf den Begriff von der grotesken „zweileibigen Figur im Karneval“. „Alle Karnevalsbilder sind zweieinig, sie vereinen beide Pole des Wechsels und der Krise in sich“, erkannte Bachtin. Die „karnevalesk-groteske Form“ verhilft dem 1895 geborenen, lange vergessenen und in den 1960er-Jahren wiederentdeckten Kulturphilosophen zufolge zur Loslösung vom herrschenden Weltbild und von Konventionen. Und sie erlaubt einen anderen Blick auf die Welt.

Die Idee des Karnevalesken als Ventil in einer Gesellschaft bietet die Chance, herrschende Prinzipien durch Exzentrik, Burleske, Deformation, Zerstörung und Subversion ästhetisch zu parodieren. So wurde die Nervosität in eine lärmenden „Krampfmusik“ übersetzt und verklanglicht. Worauf die Gründung eines „Krampforchesters“ erfolgte. Das bestand aus Instrumentalisten der Fächer Querflöte, Akkordeon, Gambe, Blockflöte und Schlagzeug. Die Musiker hatten selbstgebaute, archaisch aussehende und mit Sensorik ausgestatte Gipsmasken auf, wie man sie aus dem alemannischen Karneval kennt. Über die sensorischen Mechanismen erklangen Textfragmente. Weitere Studierende kreierten Kostüme. „Eine Studentin nähte aus ganz feinem Papier ein Königinnenkostüm, das ständig zu reißen drohte“, erzählt Sbrzesny. Damit produzierte sie eine Art „Weißes Rauschen“. Eine andere Studentin erfand eine „Wutgottheit“.

Eine weitere studentische Gruppe produzierte ein Tonband mit verfremdeten Magengeräuschen, was jene Situation symbolisieren sollte, wenn etwas Bedrohliches oder Bedrückendes sprichwörtlich auf den Magen schlägt. Schließlich gab es eine fantasievoll konstruierte, mit unterschiedlichen Percussion-Instrumenten präparierte „Klingende Bar“, um die sich die Zunft der „Körper unter Druck“ versammelte. Eine Ausstellung erinnerte an die Präsentationsform „Heimatmuseum“. Sie beinhaltete zwei Vitrinen mit Texten und Objekten, die über die Gründung der „Zunft“ berichteten.

Das Konzept des Labors soll im Sommersemester weiter ausgebaut werden. Sbrzesny möchte Theorie und Praxis noch stärker verknüpfen. „An das gemeinsame Lesen eines Textes könnte sich eine performative Sequenz und daran ein kleines Konzert anschließen“, erläutert er. Denkbar wäre es weiter, wöchentlich eine kleine Ausstellungssituation zu simulieren, die man dann gemeinsam bespricht.

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