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Kurz vor dem Kontrollverlust

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Rattle-Räsonanz und Eötvös-Oratorium bei der musica viva
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Zwei Konzerte im Rahmen der musica-viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks, keine Uraufführung: Es war ein untypisches Miniatur-Festival Anfang Mai in München: Zunächst elektrisierte das London Symphony Orchestra (LSO) unter seinem neuen Chefdirigenten Simon Rattle die Gasteig-Philharmonie, dem Konzept der „räsonanz“-Konzerte der Siemens Musikstiftung entsprechend, mit modernen Klassikern (Turnage, Birtwistle und Adams), tags darauf durfte Peter Eötvös am Pult des BR-Symphonieorchesters mit jüngeren eigenen Werken gleichsam sich selbst ein verspätetes Ständchen zum 75. Geburtstag geben.

Das LSO-Konzert verfolgte dabei eine „Durch Nacht zum Licht“-Dramaturgie: Das schmerzhaft auflodernde Ineinander zweier Solotrompeten (schwindelerregend: Philipp Cobb und Gábor Tarkövi) in Marc-Anthony Turnages „Dispelling the Fears“ – eine Bearbeitung des letzten Satzes aus seinem Erfolgsstück „Blood on the Floor“ – und der lange, rätselhaft schillernde Nachtausflug von Harrison Birtwistles „The Shadow of Night“ öffneten den Horizont für John Adams’ unverschämt plakative, unverschämt gut gemachte „Harmonielehre“ nach der Pause.

Die separierte Aufstellung der überragend disponierten Blechbläser im rechten Bühnenbereich zeitigte im ers­ten Teil für einige Passagen bei Turnage und Birtwistle verblüffende räumliche Wirkungen, sorgte dann aber auch wieder für einen nicht durchweg zweckdienlichen Concerto-grosso-Effekt. Hier und noch eklatanter dann bei John Adams fielen, wohl akustisch bedingt, die Streicher klanglich gegenüber den Bläsern ab. Das Beweinen von „Amfortas’ Wunde“ in den Celli zu Beginn des zweiten Satzes etwa tönte eher stumpf.

Unter dem charismatischen, die rhythmischen Zuspitzungen und Steigerungsverläufe bis zum Äußersten treibenden Dirigat Rattles wuchs das Londoner Orchester dann aber mehr und mehr über sich hinaus, die finale Dur-Überbietung landete genau dort, wo Adams sie hinkomponiert hat: kurz vor dem Hinüberkippen in den Kontrollverlust.

Am folgenden Abend konnten dann all jene ihre Ankündigung wahr machen, die beim Stifterempfang am Vorabend beteuert hatten, sie seien natürlich nicht wegen Rattle, sondern wegen Eötvös in München, und der Altmeister enttäuschte sie nicht. Auf das die baskischen Folklorismen klug dosierende und stilisierende Gelegenheitswerk „The Gliding of the Eagle in the Skies“ folgte der Dreiteiler „Alle vittime senza nome“. Den ungezählten ertrunkenen Bootsflüchtlingen gewidmet, entfaltet Eötvös ein zwischen desolater Vereinzelung und dem Aufbrausen eines Seestücks changierendes Mahnmal, dem das BR-Symphonieorchester eindringlich und mit exzellenten Solopassagen gerecht wurde. Die Frage, ob das Stück selbst in seiner möglicherweise zu „runden“ und zu „gelungenen“ Ges­tik dem selbst gestellten Thema gerecht wird, blieb allerdings – wie auch bei Eötvös‘ Auftritt mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester beim Kölner Acht Brücken Festival eine Woche später – unbeantwortet.

Nach der Pause konnte sich dann auch das Münchner Publikum mit dem doppelbödigen Weltuntergangswitz von Eötvös’ 2015 uraufgeführter Koproduktion mit Peter Esterházy vertraut machen: „Halleluja – Oratorium balbulum“. Matthias Brandt – wie ein Fernsehkommissar wirkend, der sich in ein Neue-Musik-Konzert verirrt hat – meis­terte den Erzählpart grandios, die Uraufführungssopranistin Iris Vermillion brillierte einmal mehr in der Rolle des beschwipsten Engels. Eric Stokloßa war ein hinreißend stotternder Prophet, der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung Florian Helgath)zelebrierte die genial eingewobenen Halleluja-Zitate aus mehreren Epochen mit Hingabe. Und so verfehlten auch die Worte des 2016 verstorbenen Peter Esterházy ihre Wirkung nicht: „Die Fleischbrühe der Kultur ist ganz dünn geworden.“

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