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Geborgenheitsort Badewanne: der Protagonist Cornelius (Jonathan Hartzendörfer). Foto: Thomas Haentzschel
Geborgenheitsort Badewanne: der Protagonist Cornelius (Jonathan Hartzendörfer). Foto: Thomas Haentzschel
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Leiden und Ende eines Totalverweigerers

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Sven Daiggers Oper „Dead End for Cornelius R.“ in Rostock uraufgeführt
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Vor fünf Jahren gab es die ersten Überlegungen, und nun war das Ergebnis zu hören und zu besichtigen: eine Oper – samt Diskussionsstoff! Vorweg die Feststellung, dass sowohl die am 2. November im Katharinensaal der Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT) erfolgte Uraufführung als auch alle sechs weiteren Vorstellungen starken bis enthusiastischen Widerhall fanden.

Schließlich galt es, damit zwei Jubilaren zu gratulieren: der Universität Rostock zum 600. und der HMT zum 25. Geburtstag. Uni-Rektor Wolfgang Schareck hatte dazu seinerzeit die Komödie Cornelius relegatus (um 1600) des Albert Wichgreve vorgeschlagen, eine Satire auf studentisches Lotterleben mit direktem Ros­tock-Bezug. Grund genug für HMT-Chefin Susanne Winnacker, alle musikalischen Ressourcen und fachlichen Kompetenzen ihrer Hochschule an- und aufzubieten, um eine Opernfassung dieses Stoffes zu ermöglichen: komponiert von einem inzwischen namhaften Absolventen, musikalisch komplett hauseigen übernommen und mit Hilfe von Studierenden der Hochschule Wismar hinsichtlich Bühne und Kostüm optisch auf die sprichwörtlichen „Bretter“ gebracht. Und das alles auf der Grundlage einer textlichen Neufassung der Vorlage (Sarah Graneis), der phantasievoll ausgereizten Inszenierung Stephan Jöris’ und einer Musik, der der Komponist Sven Daigger alle Qualitäten sowohl atmosphärischer Bühnenwirksamkeit wie musiksprachlich unorthodoxer „Rhetorik“ zu verleihen wusste.

Das Autorenteam holte den liederlichen und erfolglosen Studiosus von 1600 in die Gegenwart. Man lässt ihn hier zwar auch studieren (Bahningenieur), zeichnet diesen Cornelius aber in zehn Stationen (Situationen) sehr anders als tragische Gestalt: sensibel, kommunikationsgehemmt, von der Moderne, dem digitalen Zeitalter, überfordert. Er redet nicht, singt nicht und verweigert sich auch damit einer Gemeinschaft, die von Selbstdarstellung, Karrieredenken und einer „optimierten Oberfläche“ lebt. Unter solchen Umständen ist Cornelius lebensuntüchtig! Der Titel lautet demgemäß: „Dead end for Cornelius R.“; dieses „Ende“ – es bedeutet auch „Sackgasse“ – lässt die Inszenierung allerdings merkwürdig offen. Beschäftigen kann den Besucher auch die Schwierigkeit, Inhalts- und Konzeptbeschreibungen in der Bühnenrealität wiederzuerkennen. Die zeigt sich schon mal historisierend, ja märchenhaft, auch satirisch überspitzt oder geradezu kafkaesk, ansonsten tragisch und – auch optisch – unerwartet wenig auf heutige Gegenwart bezogen. Etwa so, als könne man sich nicht entscheiden. Nicht weniger fordernd: zeitgleich verständniswichtige Text­einblendungen (Solisten), vokalsolistische (als „Smartphon“ agierend) und chorische Einspielungen (die Gedanken des Cornelius) sowie filmische Einblendungen (Bahn) aufzunehmen und einem Ganzen zuzuordnen. Erkennbar bleibt ein roter Faden als zwanghaft in die Katastrophe führender Isolationsprozess. Auch eine zunächst möglich scheinende, dann abgebrochene Beziehung des Cornelius zu seiner Dozentin vermag diesen nicht aufzuhalten. Ein Scheitern auf ganzer Linie!

Grundkonzept und Libretto dürften unterschiedliche Zugangswege ermöglichen und zwischen Komödie, Satire und Drama sehr individuelle Wertungen provozieren; eingeschlossen die (noch vage) Vermutung, dass Handlungskonzept und bühnendramatische Umsetzung stellenweise auseinanderzulaufen scheinen. Es sind aber solcherart Ambivalenzen, auch das bewusste Verunklaren von Situationen und Entscheidungsfindungen, ebenso die das Stück prägenden Absonderlichkeiten des Protagonisten und seine konträr herausgehobene Umwelt, die dem 90-Minuten-Stück auf der Bühne eine bemerkenswert fesselnde Präsenz verleihen. Die Inszenierung hat Tempo und kennt kaum Leerläufe. Sie setzt auf Charakterisierungsschärfe aller zehn Situationen und lebt dabei sehr von einem multifunktionalen, geschickt verwandelbaren Bühnenbild und so phantasievoll wie stilistisch grenzüberschreitenden Kostümen. (Auch sie könnte man hinsichtlich einer eindeutigen Entscheidung hinterfragen, ebenso wie den Discounter-Einkaufswagen und die Badewanne, die Cornelius stücktragend und möglicherweise als rettende, isolierend schützende Flucht- und Geborgenheitsorte nutzt). Alles das sind Räume, in denen sich die studentischen Protagonisten beeindruckend souverän, ja professionell bewegen. In Erinnerung aber bleibt vor allem Sven Daiggers Musik.

Sie dominiert alles Geschehen, verdeutlicht oder konterkariert, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben. Musiksprachlich unorthodox zeitgenössisch, erweist sie sich als hochemotionales, sich stilistisch nie anbiederndes „Sprachrohr“ des auf der Bühne Gesagten und – vor allem – Nichtgesagten. Sie ist höchst variabel und klanglich faszinierend instrumentiert und besitzt alle Qualitäten sinfonisch eindringlicher Rhetorik. Daigger nutzt seine kompositorischen Kompetenzen für eine Ausdruckskunst ohne stilistische Nostalgie! Das hieß: Große und beeindruckend souverän gelöste Aufgaben für die Gesangssolisten/-innen, ein Gesangsquartett, den Hochschulchor (Benjamin Köthe) und das Hochschulorchester.

Am Pult sorgte Chris­tian Hammer für den so reibungslosen wie künstlerisch überzeugenden Ablauf einer wahrlich bemerkenswerten Aufführung. Der „immense Kraftakt“ (Winnacker) hat sich gelohnt!

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