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Der Musikschriftsteller Ulrich Dibelius, Foto: Martin Hufner
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Lordsiegelbewahrer der Qualität

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Der Musikschriftsteller Ulrich Dibelius
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Noch keine hundert Jahre jung und schon zweihundert Mal gehäutet, versucht das Radio ewig jung zu bleiben. Wobei jung kein Qualitätskriterium an sich repräsentiert. Der Schritt fort vom Etablierten markiert das zunächst Junge, das Neue, (das Bessere zuweilen) als Fortschritt. Solch wechselnde Wellenbewegungen ist ein sensibles Medium wie das Radio ebenso wie der einzelne Mensch ständig ausgesetzt. Die klingenden Sendungen, Produkte, Ergebnisse von Denken und Handeln reflektieren dies unüberhörbar. Menschen machen Radio. Sie machen aus der Idee drahtloser Übertragung Unterhaltungsradio. Oder Info-Wellen. Oder Volksdümmliches. Oder Berieselungskanäle. Oder sie füttern die (extra-)terrestrischen Abstrahlpositionen auf hohen Bergen und an geostrategisch günstigen Positionen im All mit Nahrung für die Sinne, für Sinn und Sinnlichkeit. Das geht realistischerweise nur so tief, wie das, was hineingesteckt wird, aus der Tiefe des Geistes heraus entwickelt werden kann. Wo nichts ist, kann auch nichts sein. Oder was einer nicht hat, „kann einem nicht gegeben werden“, wie es sinnvoll einer der großen Utopisten des zwanzigsten Jahrhunderts paraphrasiert, der Philosoph Ernst Bloch.

Wie immer und wie überall an den Schaltstellen gesellschaftlicher Beschleunigungen oder struktureller Entschleunigungen sind es einzelne Persönlichkeiten – und nicht die Institutionen –, die bewirken, was wirksam wird. Eine wahrhaft zünde(l)nde Persönlichkeit für die Entwicklung von Radio im Westen Deutschlands nach 1945 ist Ulrich Dibelius. „Von Hause aus“ Cellist, suchte er bald das Betätigungsfeld Journalist im Printbereich diverser Feuilletons. Ab Mitte der fünfziger Jahre war er Teil des intellektuellen Gewissens im Radio des hohen Nordens, von der Küste bis weit südlich der Lüneburger Heide. Nicht erst ein Jahrzehnt später wurde es der wilde Süden einer jungen Republik, der von linken und aufklärerischen Gedanken einer aufgeklärten Schar ungestümer Denker aufgemischt wurde.

Ein liberales und zugleich wertkonservatives Führungspersonal sowie entsprechende Strukturen im Bayerischen Rundfunk garantierten Denk- und Gedankenfreiheit in einem sonst eher engstirnigen Umfeld. Dergestalt hallten schier unerhörte Gedanken, widergespiegelt vom Alpenhauptkamm, weit über das Sendegebiet hinaus und kündeten von einer durchaus konkret lebbaren bayerischen Liberalität – die freilich so weit gereicht hatte, dass sie gar als Steigbügelhalter für die Etablierung brauner Ideologie und deren Verantwortlichkeit für das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte missbraucht werden konnte (sich willig hatte missbrauchen lassen). Hier ein neues Bewusstsein zu entwickeln, eine neue Klarheit des Analysierens und Denkens zu wecken für das, „was das andere bayern“, ein anderes Deutschland ausmacht, war inhaltliche und treibende Kraft für Radio-Konzepte und Hörfunk-Realitäten. Als ein Bannerträger immer vorne weg.

Der Heidelberger Ulrich Dibelius, Jahrgang 1924. Seine real praktizierte Musikerfahrung, sein durchdringender Scharfsinn, sein untrügliches Qualitätsbewusstsein für Partitur und für Presseerzeugnisse trug neue Verknüpfungen von Wort und Musik in ein Medium, das noch hoch geachtet war und nicht im Schatten televisionärer Populismusorgien lautstark auf sich aufmerksam machen musste, um wenigstens partielle Abschaffung entgegen zu wirken. Das hatte zum einen gewiss mit der durchaus dünn besiedelten Medienlandschaft in der Aufbruchsregion zu tun, mit nicht vorhandener Konkurrenz also. Zum anderen aber und vor allem mit der Klugheit neuer und ungewohnter Gedankennahrung und deutlichem Wissensdrang nach tausend Jahren staatlich verordneter Verblödung. Dieses neu zu prägende Bewusstsein wurde im Umfeld von „Frankfurter Schulen“ und „Darmstädter Ferienkursen“, aus „Donaueschinger Musiktagen“ heraus und von „seriellen Laboratorien“ versorgt. Das alles wurde quantitativ und vor allem qualitativ hochstehend in die expandierenden Rundfunk- und Veranstalterszenarien eingespeist. Erster Kritiker und sozusagen Lordsiegelbewahrer der Qualität: Ulrich Dibelius. Sein heute auf achthundertachtundachtzig Seiten zusammengefasstes Analysieren der Zeitgenossenschaften (Ulrich Dibelius: Moderne Musik nach 1945, München/Zürich 1998) liefert, immer aus dem Augenblick heraus beurteilt, authentischen Einblick in ein halbes Jahrhundert musikalischer Entwicklung, vor einem Publikum weg und auf ein Publikum zu. Spiegelt auch in der sprachlichen Haltung, ihrer ambitionierten, auf Genauigkeit und Ästhetik bedachten Brisanz, ein unverzichtbares Kompendium künstlerischer Position samt ihrer Veränderungen der Gesellschaft. Das Streiten, das Ästhetisieren, das Polemisieren das Provozieren, das Mitvollziehen und Mitgestalten kreativer Konflikte hält gut durchblutet nicht nur im Gehirn. Wer engagiert kritisiert, überzieht zuweilen – aus lauter Liebe der Sache gegenüber. Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, fällt zuweilen heraus. Nicht, dass ihm das passiert wäre.

Aber Mut und Risikofreude, Urteil und Urteilsschelte sind Teil dieser künstlerischen und soziologischen Zeitgeschichte in Essays und Mini-Essays im Spiegel des sich ändernden Geistes einer jeweiligen Epoche. Ulrich Dibelius hat sich dem in all seiner musikalischen Empfindsamkeit (wie auch auseinandersetzungswilligen Empfindlichkeit) stets in vorderster Linie ausgesetzt und gestellt. Die Entwicklung zeitgenössischer Musik, die permanente und exkursive Veränderung des Radios, die sammelnde und summierende Wissenschaft von der Musik danken Ulrich Dibelius viel. Er selbst dankt der Musik in diesem Zeitalter, das zunehmend mit der atemlosen Anbetung der eigenen und zutiefst selbstsüchtigen Ich-Ausprägung beschäftigt ist, die Differenziertheit im Geist, die Wachheit im Körper, die Klugheit im Reagieren.

Und wenn er – wie jüngst anlässlich der taktlos-live-Sendung aus dem Münchner Literaturhaus erlebt werden konnte – als der „nach Zahl an Jahren am wenigsten junge“ vor allem einige höchst agile, musikalisch agierende Jung-Literaten völlig unprätentiös und uneigennützig und uneitel auf deren schwächelnde Konzepte hinwies, sie seinem denkerischen und künstlerischen Vermögen konfrontierte, da war er ganz einfach und unwidersprochen der Jüngste, Agilste, Kreativste. Und die Jüngeren zeigten sich imstande, ihn zu verstehen. Möge das so bleiben.

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