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Milder Lebensweg nach der Katastrophe

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Pierre Bartholomées „Oedipe sur la Route“ in Brüssel uraufgeführt
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Pierre Boulez ist gerade achtundsiebzig Jahre alt geworden und schuldet der Musikwelt immer noch seine erste Oper. So lange wollte der namhafteste belgische Komponist Piere Bartholomée (Jahrgang 1937) nicht warten: Im auch schon reifen Alter von 66 Jahren schrieb er sein erstes Werk für die Opernbühne: „Oedipe sur la Route“ – nach einem Roman des Psychoanalytikers und Schriftstellers Henry Bauchau.

Die Situation: Oedipus, der sich die Augen ausstach, nachdem er selbst die schicksalhafte Verstrickung aufgedeckt hatte, die ihn zu Mord und Inzest trieb, begibt sich auf die Sinnsuche ins Innere der eigenen Seele. Eine weite Wanderschaft, auf der ihn seine treue und liebende Tochter Antigone begleitet, steht als äußeres, sichtbares Zeichen für die tiefenpsychologische „Auto-Reise“.

Bartholomée und Bauchau erliegen nicht der Versuchung, eine plane Reisegeschichte zu erzählen. Nicht ohne fein-ironische Raffinesse begegnen sie denkbaren Vorwürfen, noch eine weitere Literaturoper fabriziert zu haben. Oedipus und Begleitung kennen hier auch schon den Namen des dichtenden Chronisten Sophokles: Oedipus, der tragische „Held“, mutiert also bereits zu Lebzeiten zum Kunststifter, indem er die eigene Person zum Kunstwerk erhebt – ein Vorgang, der alle Merkmale einer speziellen Ausprägung von Concept-Art trägt: Der Herrscher erklärt die eigene Person zum Kunstwerk – Kaiser Nero wäre ein vergleichbares Konkurrenzmodell, modernen Diktatoren fehlt es für derartige Stilisierungen meist an der nötigen kreativen Phantasie. Diese die Chronologie aufspaltende Dramaturgie gewinnt in Bartholomées „Oedipe“ allerdings eine zu geringe Griffigkeit. Mit milder Anteilnahme und Ergriffenheit scheinen Komponist und Textdichter auf ihre Titelfigur zu schauen. Dabei treten wie in einem imaginären Welttheater andere zum Mythos gewordene Figuren vor das betrachtende Auge: Oedipus – ist das nicht der Ur-Vater der anderen großen Gestalten in der Literatur: Odysseus, Faust, auch Don Quichotte, Shakespeares Lear oder Don Juan, Figuren, deren Schicksale in vielfachen Brechungen Modellcharakter für die Existenz des Menschen besitzen? Bartholomées „Oedipe“ aber will nicht solche existenzielle Dringlichkeit im eigenen Kunstwerk aufzeigen. So entstand auf hohem Niveau und mit durchaus persönlicher Färbung ein sympathisches Bildungstheater. In jedem Augenblick spürt man die innere Anteilnahme, die jedoch in keiner Szene zu einer wie auch immer gearteten persönlichen Verstörung des betrachtenden Theaterbesuchers führt.

Das korrespondiert zugleich mit der Musik. Bartholomées Personalstil zeichnet eine behutsame klangliche Modernität aus, mit einer leichten Neigung zum Retrospektiven. Einflüsse von Debussy, Messiaen, auch Berg scheinen im Klangbild auf, das nur selten einmal von emotionalen Aufwallungen gleichsam aufschäumt, durch obsessive Repetitionsfiguren Erregungsqualitäten gewinnt. Alles strömt wohltönend dahin, selbst Dissonantes fügt sich ohne Widerstände harmonisch ein. Bartholomées „Oedipe“-Musik trägt alle Züge eines sublimierten Altersstils, fein aus-und durchgehört, instrumental mit großem Klangsinn kombiniert und auch im Vokalen mit einer gepflegten Kantabilität ausgestattet. Diese Kantabilität kostet speziell José Van Dam als Oedipus wunderbar aus. Er besitzt die unnachahmliche Fähigkeit, alles, was er singt, mit Spiritualität, feinem Expressivo und belcantistischem Wohlklang zu überziehen. Für den Oedipus bringt er aber auch noch ein individuelles inneres Engagement ein, durch das der Figur über die vorgezeichnete Musik eine persönliche Identifizierungsqualität zuwächst. Valentina Valente gestaltet neben ihm eine sensibel erfühlte Antigone. Bei Daniele Callegari lag die Partitur in liebevollen Händen, das Brüsseler Opernorchester agierte aufmerksam, geschmeidig, mit schönen klangfarblichen Wirkungen. Ließe sich das alles womöglich auch eine Spur energischer spielen, stringenter im inneren Duktus? Das müssten wünschenswerte Nachfolge-Inszenierungen zeigen.

Das Regieteam mit Philippe Sireul und dem Bühnenbildner Vincent Lemaire stammt ebenso wie Komponist, Librettist und Hauptsänger aus Belgien – solche personalen Konstellationen besitzen im Mehrsprachenland Belgien eine besondere Wertigkeit, als eine Art Identitätsfindung. Auf der weiten, requisitenarmen Spielfläche mit hohem Schrägfelsen als optischem Symbol für den schwierigen Weg, den Oedipus zu gehen hat, ordnet Sireul das Spiel in ruhiger, zeichenhafter Übersichtlichkeit. Mit Van Dam gewinnen die knappen Aktionen an dramatischer Plastizität. Der Erhebung des „Künstlers“ Oedipus in quasi göttliche Gefilde wird durch szenische Dezenz jede Larmoyanz genommen. Nach Francesconis ebenfalls in Brüssel in dieser Spielzeit uraufgeführtem hochdramatischem Opern-Oratorium „Ballata“ bot Bartholoimées „Oedipe“ gleichsam das emotionale Gegenbild: die aktuelle Opernszene bietet ein facettenreiches Spektrum.

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