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Mit der Axt gegen Flügel und Klavier

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Klavierzerstörungen in Kunst und Pop haben eine lange Tradition
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Im Sommer 1964 wurde auf dem Campus der Freien Universität Berlin ein Klavier zertrümmert. Drei mit Äxten bewaffnete junge Männer schlugen auf ein Instrument ein, das erst nach zäher „Gegenwehr“ seinen Geist auf- gab. Zahlreiche Studierende beklatschten das Spektakel, u nter ihnen auch Redakteure einer Tendenzpresse, die tags darauf vehement den „moralischen Niedergang“ Berliner Studenten beklagten.

Es war die große Zeit von Happenings, Performance und Fluxus-Bewegung, die heute längst zur Kunst des 20. Jahrhunderts zählen.  Sie alle entsprangen einem heftigen Anti-Effekt gegen die etablierte Kunst. Auf ganz unterschiedliche Art sollten Aha-Erlebnisse evoziert werden, um ein neues Schauen und Hören von Kunst zu erreichen. Klaviere und Konzertflügel galten als besonders auffällige Symbole, an denen vielfach gewaltsam das traditionelle Kunstverständnis zerstört werden sollte.

Aber ist das wirklich neu? Das ebenso material- wie kenntnisreiche Buch des Trierer Hochschullehrers und Medienwissenschaftlers Gunnar Schmidt über Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur zeigt anschaulich, dass dieses Spiel seit langem bekannt ist. In den berühmten Slapstickfilmen aus den 1920er-Jahren erlebten wir ständig Katastrophen mit dem Piano. Charlie Chaplin rutscht beim Klavier-Transport aus und versinkt mit dem guten Stück im Wasser, in dem er munter weiterspielt. Stan und Ollie schaffen einen Transport nicht, der riesige Flügel poltert einen Berg hinunter oder wird in einem anderen Film von einem wütenden Hausherrn in Stücke gehauen. Ebenso die vielen Cartoons vor allem aus der Walt-Disney-Produktion: Micky Mouse sitzt vor einstürzenden Klavieren, Donald Duck entgeht um Haaresbreite einem herabstürzenden Flügel, die Tastatur des Klaviers wird – in einem Spot aus dem Zweiten Weltkrieg – kurzerhand zum Patronengurt eines Maschinengewehrs.

Die Beweggründe sind dabei ganz unterschiedlich. Bei manchen Künstlern sind es private Anlässe („Rache für jahrelange Einzelhaft am Klavier“), bei anderen ist es der Wunsch, den elitären Kunstbetrieb – gerade das Konzertleben – durch neue Hör- und Empfindungsformen zu zerbrechen. Andere reagieren auf politische Ereignisse: 1929 auf die große Depression, nach 1945 auf die atomare Bedrohung im Kalten Krieg. Für andere wiederum ist  Klavierzerstörung eine „seelische Reinigung“, so der berühmte Aktionskünstler Raphael Ortiz. Gegenüber stehen sich Humor und Zerstörung, Sinn und Unsinn, Musik und Krach, Auflehnung und Fröhlichkeit.

Schmidts Buch, das mehrere amüsante Berichte von zum Teil haarsträubenden Aktionen enthält, nennt dabei ganz unterschiedliche Mittel der Zerstörung: vorrangig durch Äxte, Hämmer, Bohrer, aber auch mittels „Ertränken“ oder Einäscherung. Berühmt geworden sind Aktionen von Künstlern: Joseph Beuys hat Klaviere mit Filz umkleidet und eingefettet; der Nagelkünstler Günther Uecker hat Klaviere zugehämmert, worüber ein Kritiker schrieb: „Unter seinen Händen wachsen – in Schwerstarbeit – Piano und Nagel zu einer Einheit zusammen. Da fallen die Fesseln der Gewöhnung an das Alltägliche.“ 

Die meisten Aktionen hat der Autor in den USA und Frankreich aufgespürt; berühmt-berüchtigt wurde im deutschen Sprachraum mit teils lebensgefährlichen Zertrümmerungen der Wiener Kreis um Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Dieser erinnerte sich an eine Aktion von 1959: „Achi fuhr mit Rühm mit seinem Motorroller vor die Bühne. Beide schwangen sich runter, legten Fechtmasken an und zertrümmerten den Flügel mit Beilen. Den Leuten gefiel’s sehr, und eine mittellose Musikstudentin im Publikum bekam einen Weinkrampf, denn sie hatte sich bislang noch keinen Flügel leisten können.“

Doch nur Unfug und Happening? Schmidt lenkt den Blick auch auf die Literatur. In Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ wird ein Flügel zerschossen; bei Heinrich Böll rastet in „Frauen vor Flusslandschaft“ ein sonst höchst rational handelnder Politiker aus und zerschlägt ein Piano; in Uwe Timms „Freitisch“ wird eine Chopin spielende Pianistin von einem Zertrümmerer „begleitet“, bis nur noch dieser zu hören ist. Und schon 1941 hatte bei Karl Valentin als Kontrast zum offiziellen Mozartjahr (150. Todestag) ein Musikprofessor sein Instrument wegen einer unbegabten Schülerin demoliert („das bin ich Mozart schuldig“).

Der Autor hat dem Buch eine ausführliche Filmografie beigegeben, die bis hin zu Kunst- und Pop-Videos einen exzellenten Überblick gibt. Schade, dass das doch auch viel Humor einschließende Buch geradezu aseptisch-nüchtern und mitunter in schwer zu verstehendem Soziologendeutsch daherkommt. So fehlt neben der Freude an breiter Wissensmehrung doch etwas das Lesevergnügen bei einer Sache, die sich, beinahe im Sinne der Dialektik Hegels, als totaler Gegensatz zu etablierten Kunstformen verstand, gleichwohl inzwischen längst selbst fester Bestandteil der Kunst des 20. Jahrhunderts ist.                                                          

Gunnar Schmidt: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2012, 277 S., Abb., € 24,95, ISBN 978-3-496-01475-1

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