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„Voice Affairs“ aus dem Libanon, Ägypten, Palästina und Griechenland. Foto: Martin Sigmund/ECLAT
„Voice Affairs“ aus dem Libanon, Ägypten, Palästina und Griechenland. Foto: Martin Sigmund/ECLAT
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Mit Don Quixote in eine hybride Zukunft

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Die erste Digital-Ausgabe des Stuttgarter ECLAT Festivals zwischen Politik und Poesie
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Pandemische Zeiten erfordern pandemische Maßnahmen: Mit seiner 41. Ausgabe wagte das renommierte Stuttgarter Neue-Musik-Festival ECLAT den Sprung in den digitalen Ozean des World Wide Web. Bei 13 Konzerten waren an fünf Festivaltagen 35 Werke zeitgenössischer Musik zu erleben, darunter 24 Uraufführungen. Themenschwerpunkte galten dem Libanon und dem osteuropäischen Binnenstaat Belarus. Die in der weißrussischen Hauptstadt Minsk inhaftierte Oppositionsführerin Maria Kalesnikava wurde mit dem Menschenrechtspreis der Gerhart und Renate Baum-Stiftung geehrt.

Aus der Not eine Tugend zu machen: Selten war diese Fähigkeit wichtiger als in der Dauerkrise, in der wir uns global seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie befinden. Beispielhaft umgesetzt wurde sie bei der diesjährigen Ausgabe des Stuttgarter ECLAT-Festivals, das neben den Donaueschinger Musiktagen als eines der bedeutendsten Foren für Neue Musik in Deutschland gilt. Als sich im vergangenen Herbst abzuzeichnen begann, dass das 1980 unter dem Namen „Tage für Neue Musik Stuttgart“ gegründete Festival nicht in seiner gewohnten Form stattfinden können wird, begriff Christine Fischer, seit 2014 künstlerische Leiterin des ECLAT, die sich zuspitzende Infektionslage auch als Chance und stieg in die Planung eines hybriden Veranstaltungsformats ein: „Wir wollten die Restriktionen, die uns allen auferlegt sind, nicht nur selbstverständlich akzeptieren, sondern kreativ umgehen mit der Situation“, so Fischer. In einem eigens für Musik der Jahrhunderte entwickelten Webportal, das seine Feuertaufe mit zwei Konzerten im November und Dezember bereits mit Bravour bestanden hatte (die nmz berichtete berichtete online), wurde das renommierte Avantgarde-Event nun erstmals „digital ausgespielt“. Tatsächlich „hybrid“ war es allenfalls für einige wenige Musikerinnen und Musiker: Die meisten der künstlerisch Beteiligen hatten sich im Stuttgarter Theaterhaus eingefunden. Seitens des Publikums war das Festival indes ausschließlich im Internet zu erleben – zu Ticketpreisen nach deren Ermessen („pay what you can“).

Lust am Experiment

Dass dieser Umstand nicht nur von Nachteil sein muss, stellte die 41. Ausgabe von ECLAT mit großer Lust am Experimentieren und Erfinden unter Beweis – und wo wäre solch kreative Spielfreude angebrachter als bei einem Branchentreff für Neue Musik? Entsprechend war an den fünf Festivaltagen viel Innovatives geboten. Etwa beim Preisträgerkonzert zum Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart. Zum 65. Mal vergeben, zählt der mit insgesamt 12.000 Euro dotierte Förderpreis für zeitgenössische Musik seit langem zu den Fixpunkten des Festivals; aus 173 Einreichungen hat die Jury für 2020 zwei Preisträger ermittelt. Laure M. Hiendl, mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, stellt in „Ten Bullets Through One Hole“ für zwei Stimmen, Live-Elektronik und Live-Video der Sprache der Hardcore-Pornografie die Verkaufsversprechen der Waffenindustrie gegenüber. Hervorragend performt von Viktoriia Vitrenko und Natasha Lopez, die neben ihren auf einer Tonhöhe gehaltenen Sprechaktionen auch Kaskaden in stroboskopischer Geschwindigkeit ablaufender Bild- und Sound­ereignisse abrufen, wird Hiendls Stück zu einem veritablen Anschlag auf die Sinne. Subtiler, aber nicht weniger gesellschaftspolitisch motiviert und pointiert, wirkt die Versuchsanordnung für Violine und Stereoplayback des mit dem 2. Preis bedachten Österreichers Matthias Kranebitter: In „pitch study no. 1 / contra violin“ sieht sich eine Violinistin (Gunde Jäch) mit einem Lautsprecher konfrontiert, wobei ihr Part darin besteht, auf das von einem Echolot-Puls getriggerte heterogene Klangmaterial des Zuspielers – Frequenzbandsuchgeräusche, Spielekonsolensounds, Fetzen weißen Rauschens, mechanische Glissandi – mit mal imitierenden, mal eskapistischen Klanggesten „adäquat“ zu reagieren. Ein überaus gelungener Kommentar zum Sujet „Virtuoses Instrumentalsolo-Stück“, der nicht nur durch die reizvolle Spannung im Mensch-Maschinen-Dialog, sondern auch mit hintergründigem Humor überzeugt und sich, indem er Fragen nach dem Verhältnis von Individualität, Steuerung und Kontrolle aufwirft, nicht in einer allzu einfach gestrickten Kritik der „Unmenschlichkeit von Technik“ erschöpft.

Politische Statements

Überhaupt war neben dem zunächst erzwungenen, dann umarmten Digitalisierungsschub eine überraschend große Anzahl mal mehr, mal weniger dezidiert politischer Statements festzustellen. Besonders ausgeprägt und explizit natürlich beim Belarus-Schwerpunkt: Für das Projekt „Echoes – Voices from Belarus“ hatte Fischer bereits im Vorfeld belarussische Künstlerinnen und Künstler aufgefordert, mit kurzen Videobeiträgen auf die Situation in ihrem Land zu reagieren. Die Bandbreite künstlerischer Strategien ist bemerkenswert und reicht von geloopten dokumentarischen Bild- und Tonaufnahmen der Massendemonstrationen (Giesen/Sarokin: „Умножение“) über recycelte Protestsongs (Davis/Horoneko/Pcholka: „Mury“) und von unheilvollen Soundscapes unterlegte Sturmhauben-Aquarelle (Palianina/Bianchi: „She Does’t Love Me, Mom“) bis zur hyperironischen Danksagung vor gespiegelten ESC-Clips (Newski/Kowalski/Tselebrovski:„Ars Longa Vita Brevis“). Höchst eindringlich: Die Zeitraffervideoarbeit „+375 091208 2334 The body you are calling is currently not available“ von Shugaleev/Kononchenko/Filonenko zeigt eine stundenlang am Boden kniende Person – eine Erfahrung, von der viele Festgenommene berichteten. In „scratches“ werden die goldenen Lettern auf einem belarussischen Pass mit einer Rasierklinge ausradiert – Pcholka&Hramovich/Bauckholt haben ihre Videoarbeit Maria Kalesnikava gewidmet, die ihr Ausweisdokument zerrissen hat, um der Abschiebung zu entgehen. Am letzten Tag des Festivals wurde die seit September 2020 in Minsk inhaftierte Oppositionsführerin – eng mit dem ECLAT verbunden: noch vor zwei Jahren hat die auch in Stuttgart ausgebildete Musikpädagogin und Flötistin dessen Social-Media-Kanäle betreut – mit dem Menschenrechtspreis der Gerhart und Renate Baum-Stiftung ausgezeichnet.

Diversität

Ein zweiter Themenschwerpunkt befasste sich mit der „Diversität der experimentellen Musikszenen“ im Libanon. Zum Auftakt interpretierten die vorzüglichen Neuen Vocalsolisten, das Hausensemble von Musik der Jahrhunderte, im Programm „Voice Affairs“ sieben Uraufführungen von „Composerperformern“ (Fischer) aus dem Libanon, Ägypten, Palästina und Griechenland. Teilweise von literarischen Texten inspiriert oder direkt auf sie bezogen – als Stichwortgeber fungierten Dante, Sayat Nova und Baruch Spinoza – entstand, visuell verbunden und ineinander verwoben durch die Video-Installation „Assemblages“ des in Beirut lebenden Filmemachers Panos Aprahamian, ein durchaus eindrücklicher Kulturtransfer, der manchmal allerdings doch allzu sehr dem Stereotyp melancholischer Klangschönheit verhaftet blieb. Nicht so „Cabaret Macabre“ der ägyptischen Singer/Songwriterin und Komponistin Aya Metwalli: Ihre Adaption eines Nachtclub-Standards von Mounira Al-Mahdiya aus den 1920er Jahren steigerte sich zu einem Industrial-Beat, die drei Vocalsolistinnen Johanna Vargas, Susanne Leitz-Lorey (beide Sopran) und Truike van der Poel (Mezzosopran) von mikrotonalen Reibungen zu Sirenenklängen. Auch Youmna Sabas Vokaldickicht „I covered the planet with a dried leaf“ und das hypnotisch um eine Koran-Rezitation der Predigerin Sheikha Fatima Mhanna kreisende „A Short Biography of a Snake“ von Raed Yassin hinterließen bleibenden Eindruck.

Ebenfalls literarisch motiviert war die Weltpremiere „Der Sandmann“ von Günter Steinke nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Obwohl das dreiteilige Werk, mustergültig dargeboten durch das Ensemble Ascolta unter der Leitung von Nicholas Kok, von Satz zu Satz mehr Konturen annahm, blieb die „Szene für Sprecher und sieben Musiker“ etwas zu beflissen. Prätentiös und wenig gewagt wirkte der gleichförmige Wechsel von um hohen Ton bemühter Rezitation (Gerhard Mohr) und plakativen Klangballungen, zumal in suboptimaler Balance zwischen Sprecher und Musikern ausgesteuert, rasch ermüdend. Dass es auch anders geht, konnte man beim folgenden Konzert mit dem SWR Symphonieorchester erleben: Ein Feuerwerk an Ideen brennt Franck Bedrossian in seinem „Don Quixote Concerto“ ab. Während einige Episoden des berühmten Romans von Miguel de Cervantes lediglich angetippt werden – mehr braucht es ja bei derart geläufigen Inhalten, etwa dem Kampf gegen die Windmühlen, nicht –, gilt Bedrossians Interesse vielmehr der subversiven Erzählstruktur. Seine „Erinnerungen eines fahrenden Ritters für einen Pianisten, seinen Assistenten und ein Kammerorchester“, hier ideal besetzt mit Christoph Grund am präparierten Flügel als Hauptprotagonist und dem Perkussionisten Jochen Schorer in der Rolle des Sancho Pansa, zeichnen ein grandioses Zerrbild vom Topos des heroischen Solisten im Genre des Klavierkonzerts – ohne Zweifel einer der absoluten Höhepunkte des Festivals. Zuvor präsentierte Pablo Rus Broseta mit dem SWR Symphonieorchester, auch dies eine Uraufführung, „Bioluminiscence“ der norwegischen Komponistin Kristine Tjøgersen, das zwar mit Gimmicks wie Leuchteffekten und über Paukenfellen krabbelnden Mikrorobotern aufwartete, aber über Laut-(bzw. Leise-)malerei nicht wesentlich hinauskam.

Uraufführungen

Auch von SWR2-Redakteurin Dr. Lydia Jeschke kuratiert war der Auftritt des von Bas Wiegers dirigierten, hervorragend disponierten SWR Vokalensembles sowie der Zithervirtuosen vom Trio Greifer. Unter den vier Uraufführungen stach besonders Enno Poppes Gedichtvertonung „Der Wechsel menschlicher Sachen“ nach einem Text des Barockdichters Quirinus Kuhlmann hervor. Weitere ECLAT-Highlights waren mit Iris ter Schiphorsts „Whistle-Blower“ für Solo-Blockflöte (Wiebke Pöpel) mit Effektgeräten, Sampler und Streichensemble sowie Alexander Schuberts „Convergence“ für fünf Streicher und Künstliche Intelligenz, beide eigens für das Digitalformat neu konzipiert, zu erleben. Immens komisch: Ricardo Eiziriks Pandemie-Reflexion „Placeholder“. Mit der Aufzeichnung der Uraufführung von Georges Aperghis’ „Der Lauf des Lebens“ durch die Neuen Vocalsolisten und das Klangforum Wien unter dem Dirigat von Emilio Pomàrico vom September 2020 in der Berliner Philharmonie fand das Festival einen würdigen Abschluss. Dass der digitale Glitch bei vielen der avanciertesten Stücke den Drone als Schlüsselsignal endgültig abgelöst zu haben scheint und damit zur Signatur unserer Epoche wird, befindet sich in Übereinstimmung mit der Konstitution und Erfahrung virtueller Konsumenten, ihrer Aufmerksamkeitsspanne wie den technischen Störungen, denen diese unterworfen ist – und von denen auch das erste digitale ECLAT-Festival selbstredend nicht komplett frei war: Was wäre eine Premiere ganz ohne Panne? Doch das allermeiste hat tadellos bis blendend funktioniert. Weitgehend gelungen der Versuch, durch Chats, Künstlergespräche, Zoom-Meetings, Interviews, Quizaufgaben und Rezeptideen eine Art genuin virtuelles Festivalflair herzustellen. Virtuell auch der Applaus: Anstelle hörbaren Beifalls zog nach jedem Werk verbales Feedback über den Bildschirm: Von „toll!“ über „cool“ bis zu „leider lame“ reichte der Tenor der Kommentare. Zwar leistet die Anonymität wie überall im Netz auch hier dem Trollwesen Vorschub, dennoch überwogen wertschätzende Äußerungen deutlich. Auch wenn die meisten das Live-Event vermissen dürften: Allein die Tatsache, dass sich Neue-Musik-Interessierte aus ganz Europa, den USA, Brasilien, Mexiko, Argentinien und Kuba zugeschaltet hatten, spricht für sich. Ebenso, dass die Besucherzahl mit 4.500 Zugriffen im Bereich der Vorjahre lag. Insofern geht vom diesjährigen ECLAT auch eine klare Botschaft aus: Die Zukunft ist international und hybrid, verspricht Fischer.

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