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Frisuren-Kampf der Kulturen. Der Blogger und Internetevangelist Sascha Lobo mit Irokese. Foto: Martin Hufner
Frisuren-Kampf der Kulturen. Der Blogger und Internetevangelist Sascha Lobo mit Irokese. Foto: Martin Hufner
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Moralin süß-sauer?

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Ein Kommentar zur kulturellen Aneignung
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Im Herbst 2015 wurde Jennifer Scharf, Leiterin eines kostenlosen Yoga-Kurses für Menschen mit Behinderung an der University of Ottawa, Zeugin eines denkwürdigen Ereignisses. Studenten liefen Sturm gegen dieses inklusive und beliebte Angebot, ihr Vorwurf: „Kulturelle Aneignung“. Die Kursleiterin habe sich in geradezu bösartiger Absicht der von Kolonialismus und Rassismus so Leid geplagten indischen Kultur bemächtigt, sie an sich gerissen und für ihre dunklen Machenschaften missbraucht. So haben es die kanadischen Studenten natürlich nicht formuliert, aber so wurde es rezipiert – was folgte war eine Schlammschlacht im Morast des Schlachtfelds namens Social Media.

Die Universität behauptete später, der Kurs sei aufgrund mangelnder Bewerberzahlen geschlossen worden, was den Berichten von Scharf und anderen Studenten widerspricht. Knapp sieben Jahre später – ja wir Deutschen brauchen immer ein bisschen länger – ist „Kulturelle Aneignung“ oder „Cultural Appropriation“ auch in Deutschland kein Fremdwort mehr.

In jüngster Zeit kochte dieses Thema rund um ein Konzert am 18. Juli in einem genossenschaftlichen Kulturzentrum in Bern hoch. Das Konzert der Schweizer Band „lauwarm“ wurde abgebrochen, nachdem sich Besucher des Konzerts ob der eiskalten kulturellen Aneignung „unwohl“ fühlten. Das Vergehen der „Mundart-Pop-Raggae-Indie-World“-Band war nicht etwa das Praktizieren einer fernöstlichen Verrenkungsübung, vielmehr war die Dreadlock-Frisuren der weißen Musiker Dorn Im Auge der Nachwuchs-Moralisten. Die Band habe sich dieses Symbol des schwarzen Widerstands gegen Rassismus ungerechtfertigterweise angeeignet, ihre qua „Rasse“ errichtete Machtstellung missbraucht, um die Völker der globalen Peripherie nicht nur materiell, sondern auch kulturell auszubeuten. Welch eine Ironie, dass diese Frisur, bei deren Anblick man – Weed-Schwaden in der Nase – sofort an die „open-mindedness“ ihres Trägers erinnert wird, zur Manifestation eines etwaigen eigenen Rassismus geworden ist.

Dabei haben die Bandmitglieder, die sich gerne von Kulturen aus aller Welt inspirieren lassen, achtsam wie sie sind, in Jamaika um Absolution für ihre Haarpracht gebeten. Diese Feinheiten interessierte die Veranstalter und die von der Frisurenwahl emotional erschütterten Besucher wenig: Das Konzert wurde abgebrochen.

Den meisten ist dieser Vorwurf spätestens seit der Ausladung der (weißen) Musikerin Ronja Maltzahn durch eine Ortsgruppe von Fridays For Future nicht neu, auch sie versündigte sich mit derselben Frisur, den Dreadlocks. Denn was die Leas, Lisas und Tims von FFF aus dem FF können, ist die aus Nordamerika importierte Identitätspolitik. Diese Denkrichtung, mancher nennt diese Ideologen „woke“, sprich aus dem Dornröschenschlaf unachtsamer Umnachtung erwacht, ist momentan en vogue.

„Cultural Appropriation“ entstammt dem Vokabular der „Cultural Studies“, der wesentlich von der Neuen Linken geprägten angelsächsischen Kulturwissenschaft. Sie bezeichnet den zunächst tatsächlich skandalösen Vorgang, wenn Mitglieder einer Gesellschaft von größerer Machtstellung sich der Kunst oder Kultur einer schwächeren Gruppe ermächtigen, um Profit zu machen: Etwa wurden die Benin-Bronzen, Jahrhunderte alte Kunstwerke aus dem Palast des Königreichs Benin, 1897 im Vereinigten Königreich von den Kolonialherren als Beutekunst vertickt. Das ist Aneignung von Kultur. In den Vereinigten Staaten bekamen schwarze Musiker bis ins späte Zwanzigste Jahrhundert hinein von den von weißen Menschen betriebenen Labels keine adäquaten Tantiemen ausgezahlt. Das ist eine widerwärtige Ausbeutung von Mitgliedern einer Minderheit.

2013 wurde Miley Cyrus vorgeworfen, sich ebenfalls dieser Form der Ausbeutung schuldig gemacht zu haben. Sie „twerkte“ – das ist eine spezielle Art mit dem Hinterteil zu wackeln – und habe so diese alte, traditionell-afrikanische Art zu tanzen für ihre kommerziellen Zwecke ausgenutzt. Ist das wirklich kulturelle Aneignung?

Dass sich Gesellschaften in Form von Kultur austauschen, ist eine anthropologische Konstante.  Am deutlichsten wird es in der bisher vom inquisitorischen Ehrgeiz der großen Masse der Identitätspolitiker verschont gebliebenen klassischen Musik, die stets, süchtig nach dem Anderen, Einflüsse aus anderen Kulturen aufsog. Wie wäre Flamenco denkbar ohne den kulturellen Austausch zwischen der Musik der Mauren und der spanischen Kirchenmusik? Wie der kubanische Son ohne die Synthese aus Rhythmen der Yoruba-Region Afrikas und europäischer Harmonik? Angesichts der abertausenden Beispiele an im kulturellen Austausch entstandener Musik erscheint das Konstrukt der kulturellen Aneignung absurd.

Kulturen sollten nicht als hermetisch abgeschlossene Systeme verstanden werden, sondern als sich im Austausch befindende, fluide Entitäten. Transkulturalität – das Wort ist durch Wolfgang Welsch hierzulande bekannt geworden – ist immer ein Geben und Nehmen. Bei zunehmender Vernetzung der Kulturen über Social Media nimmt auch der kulturelle Austausch zu. Indem aber Kulturen als Kugeln verstanden werden, von denen nichts „gestohlen“ werden darf (und nichts anderes bedeutet „aneignen“ ja), wird sich eingereiht in eine Tendenz der globalen Deglobalisierung und Verkapselung ausgehend von den politischen Rändern. Dieses Kulturverständnis ist eher dem rechten politischen Spektrum anzusiedeln.

Nun lässt es sich leicht reden, als weißer, noch nicht ganz so alter Mann. Hat nicht eine Minderheit ein Recht auf ihre „eigene“ Kultur, müssen wir uns nicht mehr unserer symbolischen Macht bewusst sein? Letzteres muss mit einem „Ja“ beantwortet werden. Dass ein Komponist heute nicht mehr durch die Lande ziehen kann und die Volkslieder der einheimischen Minderheit, zu einer Rhapsodie oder einem Liederbuch verbrämt, als sein eigenes Werk verkaufen kann, ohne die Erschaffer irgendwie zu beteiligen, sollte selbstverständlich sein. Auch ist die Verwendung von rassistischen Stereotypen zu vermeiden. Denn Voraussetzung für kulturellen Austausch ist gegenseitiger Respekt. Kann bei Dreadlocks-Trägern ein Mangel an Respekt festgestellt werden? Und bei Yogis? Wie ist es mit dem „Twerken“? Es wurde nichts weggenommen, niemand ausgebeutet, sondern eine kulturelle Praxis übernommen.

In einer Welt aber, in der Social Media zum von Michel Foucault beschriebenen Panoptikum der Disziplinargesellschaft geworden ist, stellt Moral längst eine Währung dar. Die Teilnahme an Maßregelungen von Abweichlern der reinen Lehre auf dem Richtplatz von Twitter und Co. wird offen zur Schau gestellt, ebenso wie die Verwendung der richtigen Sprache oder die Solidarität für bestimmte Gruppen. Aus der Geldelite ist eine Tugendelite geworden, denn das Statussymbol des „woken“, ach so achtsamen Biedermeier ist keine historische Stadtvilla oder der Mahagoni-Sekretär, sondern die moralische Überlegenheit. Das führt dazu, dass der digitale Mob jegliches Augenmaß vermissen lässt und somit in letzter Konsequenz dem respektvollen Umgang miteinander, dem transkulturellen Austausch einen Bärendienst erweist.

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