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Titelseite der nmz 2021/09
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„Musical Turn“ statt Hochfahren des Systems

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Der Ruf nach einem „Neustart Kultur“ bedeutet ein falsches Signal · Von Jürgen Oberschmidt
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Gesprochen werden soll zunächst von einer Zeit, in der nichts mehr so sein sollte, wie es einmal war. In mehreren Wellen entvölkerte eine Pandemie ganze Landstriche, prägte unser kollektives Bewusstsein von Ohnmacht und Untergang, alle Welt sprach von der Seuche, lat. pestis, für Albert Camus wird die Pest gar zur Metapher unserer menschlichen Existenz. Die Seuche nahm Einfluss auf politische Verhältnisse, Quarantänemaßnahmen riefen Pest-Leugner und Verschwörungstheoretiker auf den Plan, Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierungen verbreiteten sich.

Die Pandemie führte zu einer radikalen Umverteilung der Besitzverhältnisse, zu grundlegenden gesellschaftlichen und philosophischen Neuorientierungen und wurde so indirekt zu der wohl wirkungsvollsten Fortbildungsmaßnahme aller Zeiten: In Florenz ließen Investitionsprogramme für die damals noch im profanen Handwerk verorteten Soloselbstständigen ein regelrechtes „Silicon Valley“ entstehen; heute scheint es uns, als hätten hier die Auswirkungen einer Pandemie den Fortschritt der Kunst wie ein Turbolader beschleunigt. Niemand wollte hier von einem „Neustart Kultur“ sprechen, von den überkommenen Fahrwassern und trügerischen Sicherheiten des kirchlichen Ordnungssystems wollte man nichts mehr wissen. Schließlich befand man sich in einer Zeit, in der sich die Welt zu wenden schien – und bis heute dürfen wir wohl dankbar für diesen Wandel sein: „Der mittelalterliche Mensch ist in einer gelähmten Welt gefangen, die ohne eine Dimension der Zukunft ist. Es gibt in ihr viele Dinge, aber es gibt nur die, die schon da sind. Eine Neuerung ist nicht möglich“ (Ortega y Gasset 1951, S. 140). Nach der Pest war nichts mehr so, wie es mal war, sie führte uns Menschen dazu, den „Kosmos ausgemachter Dinge“ (ebd.) mit anderen Augen zu sehen. Es ging dabei nicht um eine solche „Wiedergeburt“, auch wenn die Kulturepoche des Übergangs zur Neuzeit dies in ihrem Namen verspricht. Es ging in der Renaissance weder um einen Neustart in das mittelalterliche Denken, noch um eine Widergeburt der Antike im Sinne eines Relaunchs, sondern um das Entwerfen einer neuen Welt, um eine grundlegende Wende: Auch die Kunst befreit sich von ihren alten Göttern, wendet sich in ihren Darstellungen dem Menschen und seinem Alltag zu.

Wenn wir nach dem Lockdown heute von einem „Neustart“ sprechen, dann denken so manche an das erneute Hochfahren eines Computers, an eine Systemwiederherstellung, die allenfalls ein Relaunch des alten Ordnungssystems, der „ausgemachten Dinge“ (Ortega y Gasset) zulassen möchte. Nach einem Stillstand wird der Motor wieder angelassen, das Navigationssystem hat die „letzten Ziele“ nicht vergessen, die alte Route zum prosperierenden Mehrdesselben wird neu berechnet, im französischen heißt eine solche Wegerfahrung „Routine“.

Wir haben aber feststellen müssen, dass die vielbeschworene Kraft der Kunst, das Reden vom „Wert an sich“ der „wahren Kultur“, von ihrer „Zweckfreiheit“ im Sinne eines kantischen interesselosen Wohlgefallens, schnell von lauteren Stimmen übertönt wurde. Wir haben erfahren müssen, dass die der Kunst unterstellte Funktion als den unersetzbaren Klebstoff für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt bei großer Hitze nicht standhält. Wenn höhere Gewalten ins Spiel kommen, können kurzfristig auch andere Möglichkeiten der Zerstreuung eingesetzt werden, um den dann fehlenden Kitt zu kompensieren. Es ist einfach, aus der Kunst auszutreten, weil sie in unserem „Kosmos ausgemachter Dinge“ eben nur als ein solcher Kleister wahrgenommen wird, weil sie losgelöst scheint von unserem Leben und ihr Fehlen nur bei jenen Menschen Wunden zurücklässt, für die gerade dieser Klebstoff zum Lebenssaft geworden ist. Canto ergo sum, Kunst, um der Kunst willen, sowie Descartes dachte, indem er das Denken dachte. So bleibt die Kunst in ihrer Selbstbezüglichkeit stecken.

Von einem „Neustart Kultur“, der diese alte Ordnung wiederherstellen möchte, um die Kunst für sich selbst stehen zu lassen oder wieder zu solch­ einem Bindemittel zu machen, sollte nun wirklich nicht gesprochen werden. Solch ein „Neustart Kultur“ verkennt, dass die Kultur, die wiederhergestellt werden soll, für manche nur ein Lebensdekor bleibt und viele Menschen sich von den Arabesken der Kunst überhaupt nicht erreicht fühlen. Wer von einem Neustart spricht, der verkennt die Götter des alten Seins, die unser Leben fest in Beschlag genommen hatten und die bei einem solchen Neustart mit angerufen werden: Da ist zunächst einmal der ständige Zwang zur Selbstoptimierung, die ständigen Fragen nach einer ökonomischen Verwertbarkeit, nach dem Zweck, dem Nutzen all unseres Tuns, verbunden mit den Beschleunigungs­imperativen, die den olympischen Geist im „Schneller, Höher, Weiter“ ausmachen und denen erst in der pandemischen Zeit ein schüchternes „gemeinsam“ hinzugefügt wurde: „Wir müssen das Motto unseren Zeiten anpassen“, so lautet das Lippenbekenntnis des Chefolympioniken Thomas Bach. Der geneigte Leser darf selbst beurteilen, ob die hier gepriesenen Götter außerhalb der Kunst liegen, ob sich diese Mächte nicht auch in die Kunst eingegraben haben – oder ob die Kunst hier ausschließlich einen kompensatorischen Frondienst leistet. Wenn letzteres gelten soll, bleiben wir ein unterworfenes Subjekt, ein „Neustart Kultur“ bleibt dann eine Zwangsfigur und jedes „Soll“ behält hier eine Grenze.

In der Zürcher Zeitung vom 24. Februar 2020 ruft der Kulturwissenschaftler Jan Söffner einen Musical Turn aus, der sich an die alle Jahre wieder ausgemachten Wenden eines Linguistic Turns, Iconic Turns, Visual oder Material Turns anlehnt und tiefer greifen möchte als jener Acoustic Turn, der hier lediglich die klingenden Allgegenwärtigkeiten, sei es in Autogeräuschen, Hörbüchern oder Klingeltönen, ausmacht. Ist es ein ehrgeiziger oder gar vermessener Anspruch, nun ausgerechnet in Zeiten temporärer Stille solch einen Musical Turn zu propagieren? Scheint ein solcher nicht unvereinbar mit den wesentlichen Prämissen der alten Welt, die auf den Geist als einen Ort tiefen Erlebens verzichten kann und unsere Welt auf ein wissenschaftliches Was reduzieren möchte? Wie nimmt die Kunst an unserem Leben teil, wie schenken wir ihr einen Raum der Muße, nicht nur in der sich abgrenzenden Chorstunde am Dienstagabend, sondern in Erlebnisformen des schnelllebigen Alltags einer Gesellschaft, die nicht mehr dem „Schneller, Höher, Weiter“ gehorchen möchte? „Wir müssen das Motto unseren Zeiten anpassen“, ließe sich in Anlehnung an Thomas Bach auch mit Blick auf unsere Selbst- und Weltgestaltung behaupten. Im Sinne eines Musical Turns sollte die olympische Steigerungsideologie mit den ihr inhärenten Endlosspiralen der Rationalisierung, der Optimierung und Beschleunigung durch eine ersetzt werden, die auch im Alltag der Muße, der kontemplativen Versenkung Raum gibt und dabei einer Kunst vertrauen darf, die sich in unsere gesellschaftlichen Realitäten, in das, was uns im Alltag beschäftigt und bedrängt, einmischt.

Bei den Olympischen Spielen in London (1948) wurden zum letzten Mal Medaillen für Kunstwettbewerbe als Teil des olympischen Programms vergeben. Der Däne Erling Brene erhielt die Bronze-Medaille für seine Komposition „Lebenskraft“!

  • Ortega y Gasset, José (1951): Das Wesen geschichtlicher Krisen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

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