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Das Dulcinea-Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters. Foto: Jürgen Bubeck
Das Dulcinea-Projekt des Stuttgarter Kammerorchesters. Foto: Jürgen Bubeck
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Musik erzählt und Sprache hat Sound

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„Dulcinea schafft’s!“ im SKOhr-Labor – Education-Programm des Stuttgarter Kammerorchesters mit Timo Brunke
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Deutlich und kräftig tönt es von der Bühne herunter durch den großen Konzertsaal des Stuttgarter „Wizemann“: „Das Orchester hat also geprobt“, skandiert der kleine Valentin selbstbewusst, „ein Stück über den seltsamen Ritter Don Quijotte … Der spanische Dichter Cervantes hat ihn sich ausgedacht mit ganz viel Phantasie und seine Abenteuer aufgeschrieben.“

Das hat der Achtjährige von Timo Brunke gelernt, wie er später erzählt: „dass wir laut sprechen sollen und nicht alles so runterrattern“. Und dass er vor dem Sprechen tief einatmen und das Publikum nicht weiter beachten, sondern „sich einfach hinten einen Punkt suchen“ und den fixieren solle. Gleich wird die Ouvertüre zu Telemanns „Burlesque de Quixotte“ erklingen. Das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) spielt sie live auf der Bühne. Es wird gerade geprobt für das aktuelle Education-Großprojekt des Orchesters, für das SKOhr-Labor. „Dulcinea schafft’s!“, ein „Poetry-Konzert“, heißt die Produktion, die vor allem durch die Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert wird.

Beteiligt sind über 100 Schüler und Schülerinnen: fünf Klassen aus Stuttgart und Umgebung. „Wichtig ist uns, dass hier unterschiedlichste Schulformen zusammentreffen“, erklärt die Musikvermittlerin  Katharina Gerhard, die das SKOhr-Labor zusammen mit der Geigerin Ulrike Stortz organisiert. So sind diesmal die Klasse 3c der Rosenschule Zuffenhausen, die 4b der Wilhelmschule Wangen, die 7a der Gemeinschaftsschule Ostfildern, die 6a der Park-Realschule in Stammheim sowie Zehntklässlerinnen des Wilhelms-Gymnasiums Degerloch mit dabei.

Kunst-, Tanz- und Musikprojekte gab es schon viele im SKOhr-Labor. Diesmal aber geht es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprache und Musik. Deshalb hat man den passionierten Wortkünstler und Poetry-Slamer Timo Brunke an Bord geholt. Seit 20 Jahren tourt Brunke nicht nur mit seinen eigenen Programmen durch die Republik, sondern vermittelt ebenso breitflächig an Kinder und Jugendliche, was ihm selbst Lebenselixier ist.

Jetzt macht das SKO die Musik, und die Kinder und Jugendlichen sprechen, skandieren, erzählen, rezitieren – einzeln oder im Chor, mal frei, mal im Rhythmus und Ausdruck der Musik, immer deren Inhalt widerspiegelnd. Denn Musik bedeutet etwas, das haben alle gelernt bei der Vorbereitung, und dass Programmmusik sogar ganze Geschichten erzählen kann. Neben Telemanns „Don Quixotte“ erklingt auch Musik aus Mozarts „Don Giovanni“ oder Aulis Sallinens „The nocturnal Dances of Don Juanquixote“. Diese Stücke dienten den Kids und Teenagern im Vorfeld als Inspiration. Denn die Texte stammen zum größten Teil von ihnen selbst. Wie jener der neunjährigen Viola. Während das Orches-ter majestätische Klänge vernehmen lässt, erzählt sie stolz und mit schön rollendem R eine Rittergeschichte aus ihrem eigenen Leben: „Einmal warn wir in Mazedonien“, schallt es eindrucksvoll durch die Halle, „und da war ich eine Königin. Mein Cousin war der König. Und der andere Cousin war ein Ritter. Wir hatten zwei Sessel und zwei große rote Decken. Dann haben wir über diese Sessel die Decken geworfen. Dann haben wir uns hingesetzt. Dann ist der Ritter gekommen und hat uns besiegt.“

Es sind ganz unterschiedliche Texte, die da unter der Anleitung Brunkes entstanden sind. Solche, die die Abenteuer des wirren Ritters Don Quijotte verarbeiten oder sich über die Bedeutung von Musik für das eigene Leben Gedanken machen, Geschichten rund ums Orchester, eigene Erlebnisse, Wortspielereien, Assoziationsketten. Die Zehntklässlerinnen nehmen gar Don Giovanni kritisch aufs Korn, machen ihm den Prozess. Brunke und Mitglieder des SKO kamen seit Anfang des Jahres immer wieder in die Klassen, gaben Impulse, die Lehrer und Lehrerinnen führten die Arbeit dann im Unterricht fort. Am Ende fügte Brunke alle Texte zusammen und verschmolz sie durch eigene Überleitungen zu einem Ganzen.

Phantasie und Musik seien Schwestern. Aus dieser Idee entspinnt sich die phantastische Logik des Stücks: „Ein ausgedachter Ritter hat sich ein Mädchen ausgedacht“, ruft Emir. „Und Phantasie mal Phantasie, das weiß man aus der Mathematik und Physik, das gibt Phantasie hoch zwei, also: Wirklichkeit“, skandiert Nehir. „Deshalb wird Dulcinea jetzt in Wirklichkeit geboren!“, ergänzt Vanessa – alle drei aus der siebten Klasse. Klar, es muss ein Handlungsfaden her: Dulcinea, die Phantasie-Liebe Don Quijottes, wird durch die Orchestermusik herbeigezaubert und zu Telemanns Seufzermelodik und Staccato-Herzklopfen in einen Geigenkasten hineingeboren. Innerhalb der zwei Konzertstunden wächst sie zur selbstbewussten jungen Frau heran. Am Ende lässt sie Machos wie Don Giovanni cool abblitzen. Das alles wird ausschließlich durch Texte und Musik evoziert.

Die Zehntklässlerinnen des Wilhelms-Gymnasiums – zuständig für „Don Giovanni“ – sind begeistert. Frederike (15) gefällt Brunkes Sprachtechnik: „dass man die Wörter auf der Zunge zergehen lassen soll, als würden sie gut schmecken. Man muss das Wort richtig fühlen, sagt er.“ Marlen (16) fasziniert, „Bilder ganz ohne Körpereinsatz, nur mit der Sprache zu erschaffen, so dass andere sie sehen können.“ Nicht nur für Lydia (15) hat sich durch dieses Projekt das Verhältnis zur Sprache auch im Alltag verändert. Sie gehe jetzt viel achtsamer damit um, sagt sie.

Martina Casel, Klassenlehrerin von Valentin und Viola an der Rosenschule Zuffenhausen, schätzt Angebote wie das SKOhr-Labor sehr. Deshalb opfert sie viel Freizeit, füllt Anträge aus, baut dann alles kreativ in den Schulalltag ein. Der Erfolg belohnt sie auch diesmal: „Die Kinder haben ungeheuer viel dazugelernt. Ich habe viele Kinder mit Migrationshintergrund in meiner Klasse, von denen einige so leise gesprochen haben, dass ich sie nie verstanden habe. Sie trauten sich einfach nicht.“ Das habe sich deutlich verbessert, ganz abgesehen von der Ausdrucks- und Konzentrationsfähigkeit und vom Selbstbewusstsein.

Bei der öffentlichen Aufführung im „Wizemann“ läuft dann alles wie am Schnürchen. Ein paar Mikrophone sind auf der kargen Bühne aufgestellt. Kein Bühnenbild, keine Kos-tüme. Jede Klasse tritt für sich als Gruppe auf, nacheinander, in jeweils eigenen T-Shirt-Farben. Man wechselt sich vor den Mikros ab, manchmal geht es Schlag auf Schlag: dann werden Wortketten gebildet, etwa wenn es in der Musik um eine Speisekarte geht: „Sucuk mit Ei oder  Chili con Carne … Rührei und Gulasch und Sushi und Yufka … Würstchen und Reis oder Pizza Spaghetti“. Auf der Bühne dirigiert Johannes Klumpp das SKO, unten vor der Bühne sitzt Brunke und dirigiert die Sprachmusik der Kinder und Jugendlichen. Es ist beeindruckend, wie diszipliniert und leidenschaftlich alle bei der Sache sind. Im oft rhythmischen Hin und Her vieler Stimmen, im feinmaschigen Textgeflecht den Überblick zu behalten und genau zum richtigen Zeitpunkt seinen Satz zu sagen: Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die fast alle auswendig meistern.

So sehr Timo Brunke für solche Projekte brennt, so sieht er vieles auch kritisch. Projektweise Arbeit sei gut, aber sie ersetze nicht den musischen Unterricht an der Schule. Das sei aber der Fall. Seit Jahrzehnten würden die musischen Fächer an den Staatsschulen immer weiter ausgedünnt, obwohl musische Kompetenzen eigentlich als notwendig und als gesellschaftlich wünschenswert erkannt werden: „Aber spätestens mit dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe verliert sich der Anspruch, Grundlagen wie Zuhören, Rhythmus, Singen, Rezitieren, Tanz oder Musizieren als Alltagspraxis zu verstetigen. Die Lehrer und Lehrerinnen müssen Wissen vermitteln – während das Liederbuch im Regal verstaubt.“

Auch Martina Casel findet es bedauerlich, dass solche künstlerische Arbeit immer nur befristet möglich sei, dass Projekte wie dieses nicht institutionell verankert seien und dass man immer wieder um das Geld kämpfen müsse. „Dabei tut es den Kindern so gut!“

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