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Stuttgarts neues Theaterhaus auf dem Pragsattel
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In Stuttgart wurde jetzt nach vierjähriger Bauzeit das neue Theaterhaus auf dem Pragsattel eröffnet. Anlass für viele andere Gemeinden in unserem Land, neidvoll auf die schwäbische Kunstmetropole zu blicken: Wie schaffen die das nur? Wahrscheinlich, wie in diesem Landstrich nicht anders zu erwarten, mit Fleiß. Und mit Energie, Phantasie und der Einsicht, dass eine lebendige Stadt solche Stätten für Begegnungen mit den vielfältigsten Formen der Kultur heute dringender denn je benötigt.

Schillers Götterfreund Ibykus, sollte diesem denn eine Wiederauferstehung zuteil werden, würde es jetzt unwiderstehlich nach Stuttgart ziehen: Wie damals auf Korinthus Landesenge beim Kampf der Wagen und Gesänge lockt auch das neue Theaterhaus auf dem Pragsattel die Menschen mit Kultur und Sport an. Die antike Einheit von Geist und Körper, oft und immer wieder beschworen, selten erreicht, hier könnte sie Ereignis werden: Eine Stunde Volleyball in der Sporthalle, dann Wechsel ins Theater, zu Rock, Pop und Jazz, Tanz, Schauspiel und Kabarett oder sogar zur Musik der Avantgarde, denn einer der Hauptnutznießer des neuen Kulturzentrums dürfte die „Musik der Jahrhunderte“ sein, eine Initiative, unter deren Dach sich die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, das Festival Neue Musik „Éclat“, Meisterkurse für Zuhörer und viele weitere Aktivitäten versammeln.

Bisher war das Stuttgarter Theaterhaus im Stadtteil Wangen in kleinerem Rahmen untergebracht. Die enorme Ausstrahlung, die von dort in Stadt und Region ausging, dürfte sich nun potenzieren. In dem ehemaligen, in vier Jahren aufwendig umgebauten Rheinstahlwerk (ein baugeschichtlich anspruchvoller Industriebau des Architekten Emil Fahrenkamp, im Jahre 1923 aus heimischem Backstein errichtet) findet sich ein bemerkenswert großes Platzangebot: Ein Theater- und Konzertsaal mit rund tausend Sitzplätzen (unbestuhlt fast 1.900 Stehplätze), in dem mittels mobilen Tribünen auch Raumveränderungen möglich sind, wie sie gerade von heutigen Komponisten für ihre Werke oft gewünscht werden. Drei Theatersäle fassen jeweils 450, 350 und 150 Besucher. Vier Probenräume können teilweise ebenfalls für Projekte genutzt werden, eine Multifunktionshalle von etwa siebenhundert Quadratmetern weckt Phantasien an kühne Raum-Klang-Installationen. Insgesamt beträgt die Nutzfläche des Geländes zirka 12.000 Quadratmeter. Der Kommunikation zwischen den einzelnen Veranstaltungen dienen Restaurant, Bistro, eine Bar sowie ein Biergarten. Die Baukosten für alles belaufen sich auf etwa 17 Millionen Euro – geschenkt könnte man sagen, wenn man die Summe auf die Zukunftsperspektiven umrechnet. Die Stadt Stuttgart darf stolz auf ihr Theaterhaus sein und sollte nun auch nicht bei den notwendigen Zuschüssen für den laufenden Betrieb knausern, die dank zu erwartender hoher Eigeneinnahmen (nach den Erfahrungen im alten Theaterhaus) ohnehin kaum astronomische Höhen erreichen dürften. Eine lebendige Stadt braucht solche Versammlungsstätten der Bürgerschaft, zu der schließlich auch die Jugend zählt. Stuttgarts Theaterhaus, von brodelndem Verkehr umtost und mit dem imposanten „Macht“-Bau der Daimler-Chrysler-Bank in unmittelbarer Nachbarschaft, könnte inmitten großstädtischer Unruhe zu einem Konzentrationspunkt für städtisches Gemeinschaftsleben werden, das heute dringender denn je zugleich für die Zukunft unserer Städte, für das, was man unter einer „Civitas“ versteht, zu fordern ist. Wie stark das Bedürfnis nach so gestalteten Versammlungsorten bei den Menschen, bei den Bürgern einer Stadt ist, das war an den ersten Veranstaltungen im neuen Theaterhaus schon deutlich zu erfahren. Nach einem „CrossOver“-Projekt von Riccardo Nova, der zeitgenössische Musik, Techno-Sounds und indische Perkussion verbindet, rief die „Musik der Jahrhunderte“ zu einem ersten „Performance Day“ auf dem Pragsattel: Musik in allen Räumen und Fluren, Konzerte, Klanginstallationen, Sprech-Theatralisches von Hans Arp und dessen Freunden Walter Serner und Tristan Tzara (immer wieder erfrischend: die Sprach-Kunst-Werke von einst, besonders wenn sie so virtuos dargeboten werden wie vom ExVoco-Ensemble Stuttgart.

Grundiert wurden die Klangereignisse in den Sälen vom Ensemble Suono Mobile, das mit Musik von einem Dutzend zeitgenössischer Komponisten die Foyers, Treppenhäuser und Flure „beschallte“ – wer sich die Ruhe nahm, den Musikern genauer zuzuhören und nicht nur vorbei zu schlendern, konnte ausgezeichnete Interpretationen hören. Wer nennt die Komponisten, wer die Stücke, die alle in diesem sechsstündigen Musik-Marathon erklangen: Teodoro Anzellotti bearbeitete Kurtágs „Jaketok“-Klavierspiele für Akkordeon – brillant. Bernd Thewes schrieb „Paraphrasen zu den 7 Sieben des Salzhändlers“, Musik zu einem Detail aus Marcel Duchamps „Großem Glas“ – was sich äußerst phantasievoll und intelligent anhörte. Gern begegnete man auch wieder Nicolas A. Hubers „Ohne Hölderlin“, wo sich ein Kontrabass und ein Klavier (mit ironischem Seitenhieb) nicht um die Hölderin-Mode bemühen, sondern darum, für ihre enorme instrumental-technische Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Klang-Basis zu finden.

Neben dem Akkordeon-Kurtág gab es noch zwei Uraufführungen an diesem Abend: Hans-Peter Jahn, als Musikredakteur des Südwestrundfunks Spiritus rector der „Musik der Jahrhunderte“, des „Éclat“-Festivals und auch dieser Performance, stellte aus 42 Kompositionen, die zwischen 1952 und 2002 von zwei, drei Dutzend Komponisten geschrieben wurden, eine Vierzehn-Minuten-Tonband-Collage her, die er, nicht ohne Witz, als Ratespiel, Klangübung oder Demontage anbietet. Der 1974 geborene Martin Schüttler erfindet in „taped & low-bit“ für Countertenor und Synthesizer ein artifizielles „Puzzle“-Spiel aus den unterschiedlichsten Ausdrucksmitteln und Klangerzeugungen, verfremdet, unverfremdet, künstlich, scheinbar unvereinbar, unaufgelöst, zersplittert, das dem Zuhörer nichts weiter übrigbleibt, als erst einmal einfach zuzuhören, was auch spannend sein kann, zumal Daniel Gloger ein hervorragender Countertenor ist. Man könnte noch lange fortfahren, einzelne Ereignisse zu beschreiben. Doch zunächst einmal Schluss jetzt: Das neue Theaterhaus wird in Zukunft noch oft Anlass bieten, nach Stuttgart zu fahren.

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