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Musikstadt Gütersloh

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Eine Werkschau von Peter Ruzicka
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Wien ist eine Musikstadt, München sicher auch. Paris und London, obwohl eigentlich zu groß, bieten ebenfalls partielle Musikstadtprofile. Und Gütersloh? Ist Gütersloh eine Musikstadt? Einwohnerzahl unter hunderttausend, nicht einmal eine richtige Großstadt, bekannt für Fleischwaren, Textilien, Haushaltsmaschinen, Holz- und Eisenprodukte, und, natürlich, für einen Globalplayer mit Büchern und Medienzeugs – wie könnte in diesem Umfeld blühendes Musikleben gedeihen?

Wien ist eine Musikstadt, München sicher auch. Paris und London, obwohl eigentlich zu groß, bieten ebenfalls partielle Musikstadtprofile. Und Gütersloh? Ist Gütersloh eine Musikstadt? Einwohnerzahl unter hunderttausend, nicht einmal eine richtige Großstadt, bekannt für Fleischwaren, Textilien, Haushaltsmaschinen, Holz- und Eisenprodukte, und, natürlich, für einen Globalplayer mit Büchern und Medienzeugs – wie könnte in diesem Umfeld blühendes Musikleben gedeihen? Falsche Vorstellungen. Gütersloh ist eine Musikstadt. Nicht nur, weil Hans Werner Henze hier anno 1926 geboren wurde und heute vornehmlich in Italien lebt, oder weil genannter Globalplayer von Zeit zu Zeit in den Mauern der westfälischen Stadtidylle einen hochgestochenen internationalen Gesangswettbewerb aufzieht. Die Qualitäten der Musikstadt Gütersloh liegen woanders und nach außen eher verborgen: In der reichen Szene des Chorsingens, in den Konzerten mit Kirchenmusik, in der Arbeit der Musikschule mit ihren Konzertreihen, in den vielen privaten musikalischen Initiativen und, last but not least: In der Person Klaus Kleins.

Klaus Klein leitet das Kulturamt der Stadt Gütersloh und organisiert das allgemeine Musik- und Theaterangebot für die Musik- und Theaterfreunde von Stadt und Region. Auch Ausstellungen organisiert er, literarische Lesungen, Jazz und Ballett, alles was eben zu einem normalen gleichwohl gehobenen Kunst- und Kulturangebot gehört. Ein eigenes Orchester besitzt die Stadt nicht, auch kein eigenes Theater- oder Opernensemble, das würde die materiellen Kapazitäten entschieden überfordern. Doch gibt es lange und enge Bindungen an kleine und größere Theaterstädte, aus deren oft recht anspruchsvollen Spielplänen sich Gütersloh einen eigenen abwechslungsreichen Spielplan zusammenstellt. Osnabrück, Mülheim an der Ruhr, Deutsches Theater Göttingen heißen einige der Partner. Opern und Operetten kommen vornehmlich vom Landestheater Detmold. Sogar die Symphoniker aus Hamburg bereichern das Musikangebot, aus München reist das Bayerische Staatsballett an und aus Hamburg John Neumeier mit seinem Ensemble.

Das Herzstück seines Spielplans aber „komponiert” sich Klaus Klein selbst. Er war einst Dramaturg an der Hamburgischen Staatsoper, einem bekanntermaßen sehr modernen, für die Zeitgenossen aufgeschlossenen Musiktheater. Mit diesen Verbindungen, und weil eben Gütersloh die Geburtsstadt Hans Werner Henzes ist, organisierte Klaus Klein eine Reihe mit modernen Komponisten, die im Laufe der Jahre beachtlichen Umfang gewonnen hat. Das Prinzip, das Klein dabei verfolgt, bewährte sich schon andernorts, in Berlin oder bei Wien modern: Der Komponist zum Anfassen weckt nicht nur die Neugier des Publikums, dieses fühlt sich zugleich einbezogen in Gespräche und Diskussionen, kann Fragen stellen und bei allem die Erkenntnis gewinnen, dass der jeweilige Komponist eigentlich recht sympathisch ist und man deshalb seine Musik mit gebotener Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit einmal ruhig anhören sollte. Den Komponisten gefiel das „Modell Gütersloh” ausnehmend gut. György Ligeti reiste im Laufe der Jahre schon dreimal an – Zitat: Gütersloh ist das schönste Festival neuer Musik, das es gibt –, Henze galten zwei Veranstaltungen und auch die Namen der anderen Komponisten lesen sich wie ein kleiner Gotha der Moderne: Stockhausen, Messiaen, Feldman, Cage, Kagel, Kurtág, Berio, Gubaidulina, um nur einige zu nennen. Nicht alle konnten dabei nach Gütersloh kommen, einige, weil sie nicht mehr am Leben waren wie Feldman oder Cage, oder Kurtág, der sich gern solchen Präsentationen entzieht und lieber ins Komponieren flieht.

Auf diese Weise entstand durch kontinuierliche Arbeit bei den Musikfreunden in Stadt und Region ein wachsendes Interesse. Klaus Klein achtet darauf, dass die vorgestellten Werke der Komponisten auf entsprechend hohem Interpretationsniveau angesiedelt sind. Kölner Rundfunksinfonieorchester, Südwestfunk-Sinfoniker, Arditti String Quartet – das ist für die Moderne das Beste, was es gibt. Sie waren schon häufig in Gütersloh, und auch die Namensliste der Dirigenten und Solisten liest sich imponierend: Geballte Kompetenz für die Darstellung Neuer Musik. Nur so kann Neue Musik überhaupt adäquat begriffen und erlebt werden: Wenn ihre Darstellung präzise dem entspricht, was die Komponisten sich erdacht, vorgestellt und dann notiert haben. In Gütersloh ist das immer wieder beeindruckend zu erfahren.

Die letzte Begegnung mit einem Komponisten Ende April dieses Jahres stand unter einem besonderen Zeichen: Peter Ruzicka, terminlich ausgespannt zwischen seinen umfangreichen Verpflichtungen als neuer Festspielintendant in Salzburg und als Leiter der soeben beendeten Münchener Biennale für Neues Musiktheater, nahm sich die Zeit, nicht nur nach Gütersloh zu reisen, sondern auch noch mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg ein anspruchsvolles Konzertprogramm mit eigenen Kompositionen für Gütersloh einzustudieren: Das Orchesterwerk „Tallis – Einstrahlungen für großes Orchester” aus dem Jahr 1993, die Komposition „Erinnerung – Spuren für Klarinette und Orchester” (2000), dann „Satyagraha – Annäherung und Entfernung für Orchester” (1984), „...Vorgefühle...“ für Orchester (1998) sowie „Fünf Bruchstücke für großes Orchester”.

Ein zweites Konzert mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Dennis Russell Davies umfasste die Stele für Paul Celan nach Gedichten aus „Zeitgehöft”, die Ruzicka 1985 unter dem Titel „...der die Gesänge zerschlug” veröffentlichte, ferner die „Sechs Gesänge nach Fragmenten von Nietzsche” für Bariton und Klavier (1992/97), „Antifone – Strofe” für 25 Solostreicher und Schlagzeug (1970 geschrieben), die „Préludes”, sechs Stücke für Klavier aus dem Jahr 1987 sowie der vor zwei Jahren entstandene „Tombeau” für Flöte und Streichquartett. Das Arditti String Quartet schließlich komplettierte das instruktive Komponistenporträt mit den vier Streichquartetten, die 1970 (Nr. 1 und 2) sowie 1992 und 1996 geschrieben wurden. Außerdem hörte man noch den Streichquartettsatz „Klangschatten”, den Ruzicka 1991 für den Musikverleger Alfred Schlee zu dessen neunzigsten Geburtstag komponierte – damals feierte zugleich Schlees Universal Edition ihren „Neunzigsten”. Zu dem festlichen Ereignis hatten drei Dutzend Hauskomponisten klingende Grußadressen geschrieben.

Zur Dramaturgie der Gütersloher Komponisten-Präsentationen gehören auch Filme, Vorträge und Gespräche. So auch im Falle Peter Ruzicka. Felix Schmidts und Holger Preußes Film-Porträt „Peter Ruzicka – Mein Leben”, im Umfeld der „Celan”-Uraufführung an der Dresdner Staatsoper entstanden, nähert sich dem Komponisten, Intendanten und Dirigenten Ruzicka wohl etwas zu devot-huldigend, um das komplexe Wesen der Person Ruzicka analytisch-klar zu erfassen. Da war der Vortrag Peter Beckers zur Musik des Komponisten als „Versuchte Nähe” (so der Titel) schon präziser, und auch das Gespräch des Musikkritikers Gerhard R. Koch mit Peter Ruzicka, unter das Thema „... den Impuls zum Weitersprechen...” gestellt, öffnete mannigfache ästhetische Perspektiven auf das Werk.

So weit gespannt entfaltet und reflektiert waren selbst so genannte Insider, die vieles von Ruzicka schon gehört haben, überrascht von der Fülle und Vielgestaltigkeit eines kompositorischen Schaffens, das so konzentriert dargeboten wie in Gütersloh, gleichwohl durch eine Einheitlichkeit beeindruckt, die aus intensiven Fragestellungen, kritischen Reflexionen, musikalischem Denken und geschichtlicher Bewusstheit erwächst. In seinen „Anmerkungen zum musikalischen Denken von Peter Ruzicka”, erschienen im Sikorski-Musikverlag in einer Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag des Komponisten, unterscheidet Thomas Schäfer in Ruzickas kompositorischer Entwicklung in drei Jahrzehnten drei „Spuren”, die er mit „Fragmentästhetik”, „Musik über Musik” und „Auf dem Weg zum Musiktheater” (zur „Celan“-Oper) überschreibt. Schäfer projiziert seine Untersuchung genau und einsichtig immer wieder auf das einzelne Werk, wobei ihn des Komponisten eigene Anmerkungen im Sinne anschaulicher Genauigkeit unterstützten. In Gütersloh drängten sich durch die Konzentration des Hörens die Differenzierung kompositorischer Verfahren überwölbende Erfahrungen auf: Will man Ruzickas Musikschaffen auf eine, womöglich im Sinne strenger Analyse zu plakative, Formel bringen, müsste man vor die alle Begriffe umschließende Klammer die „Geschichtlichkeit” setzen.

In diese Geschichtlichkeit ist das bewusst „Fragmentarische” ebenso integriert wie in der „Musik über Musik” die Zitiertechnik. Wenn Ruzicka Mahler, Allan Pettersson, Wagners „Tristan” (im vierten Streichquartett) oder in „Tallis” die 48-stimmige Motette „Spem in alium” des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis beschwört, dann sind das keine Zitate, vielmehr Vergewisserungen: darüber, dass die (unsere) Musik auch in den Phasen scheinbarer Entfernung letzten Endes nicht aus ihrer Geschichtlichkeit herausfallen kann. In die Klänge von Ruzickas Musik treten die Klanggestalten Mahlers und der anderen wie von fern kommend in unser Bewusstsein ein, entfernen sich wieder, aber die Spuren, die sie hinterlassen, verlieren sich nicht. Diese Bewusstwerdung birgt zugleich auch ein wichtiges politisches Potenzial.

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