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Billie Holiday mit Hund und Ananas in der Garderobe. Foto: Prokino / William P. Gottlieb
Billie Holiday mit Hund und Ananas in der Garderobe. Foto: Prokino / William P. Gottlieb
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Objekt einer hartnäckigen Obsession

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Der Filmemacher James Erskine begibt sich auf die Spuren der Sängerin Billie Holiday und ihrer Biografin Linda Kuehl
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Wie macht man aus Tonbändern einen Film? Noch dazu aus 200 Interview-Stunden, die sich schon zweimal sträubten, zum Buch zu werden? Einmal sogar so hartnäckig, dass sie Linda Lipnack Kuehl, der wir diese Interviews mit Weggefährten von Billie Holiday (1915–1959) verdanken, 1978 wahrscheinlich in den Selbstmord trieben. Weshalb ihr geplantes Buch – eine Biografie der Sängerin – auch nie erschienen ist.

Und ein anderes Mal als zwar tatsächlich erschienenes, aber höchst fragwürdiges Buch: nämlich Julia Blackburns „With Billie“ (2006), das auf Deutsch in der Aufmachung noch dazu so tut, eine Biografie der ersten und bis heute vielleicht großartigsten Sängerin des Jazz zu sein. Wo es doch nur Linda Kuehls Interviews zwischen zwei Buchdeckel presst – noch dazu in seltsamer Auswahl und intransparenter Bearbeitung, nämlich ohne die Fragen der Interviewerin.

James Erskines Doku-Biografie „Billie“ (97 Minuten; FSK 12; ab 24. Dezember – so Gott will – in den Kinos) geht einen ganz anderen Weg. Entlang der sorgfältig restaurierten, zwar schon mehrfach ausführlich zitierten (vor allem in Donald Clarkes Billie Holiday-Biografie!), aber noch nie gehörten Interviews von Linda Kuehl aus den 70er- Jahren, erzählt er nicht nur die Geschichte der afro-amerikanischen Sängerin, sondern als Nebenplot auch die der jungen, feministischen Journalis­tin Kuehl, die in einer Biografie zeigen wollte, dass das Objekt ihrer Obsession – Billie Holiday – nicht oder jedenfalls nicht nur Opfer war. Und die darüber tragischerweise selbst zum Opfer wurde: das ihres überbordenden, nicht enden wollenden Projekts. Ihrer Überidentifikation mit Billie Holiday. Oder auch – wie die Familie der Verstorbenen glauben will, aber nicht belegen kann – Opfer eines Mordes, der irgendwas mit dem Buchprojekt, ihrer Beziehung zu Count Basie und seltsamen Drohungen am Telefon zu tun haben soll. Eine These, die der Film zwar wiedergibt, sich klugerweise aber nicht zu eigen macht.

James Erskine erzählt seine Doppel-Hommage, indem er die Mitschnitte der Kuehl-Interviews visuell und filmisch unterlegt, gegenschneidet und illustriert: von Tony Bennett bis Carmen McRae, vom Zuhälter aus Baltimore, der Billie Holiday als Mädchen auf den Strich schickte, bis hin zu den Drogenfahndern, die den Jazzstar beschatteten und ins Gefängnis brachten. Er verwendet Fotos der prominent fotografierten Sängerin – von Fotografen wie Carl Van Vechten oder Jerry Dantzig –,  Filmmaterial von Billie Holidays Live-Auftritten im Fernsehen und Auszüge aus dem Manuskript von Kuehls Biografie. Schwarz-weißes Film- und Bildmaterial wurde von Marina Amaral nachkoloriert, was mehr als nur ein Gimmick ist: Der Film und sein Gegenstand kommen nicht im Schwarz-Weiß-Blues, sondern lebendig, bunt und aktuell rüber.
Und damit nicht nur über Billie Holiday geredet wird, sondern auch sie selbst zu Wort kommt, greift Erskine (eigentlich ein Spezialist für anspruchsvolle Sportdokus und -biografien) auf Radiointerviews mit der Sängerin zurück. Wo Linda Kuehl in den 70er-Jahren daran verzweifelte, dass sie eine Billie Holiday zugedachte Stimme in ihrem Kopf zwar hören, aber nicht zu Papier bringen konnte, wählt Erskine geschickt Selbstaussagen der Sängerin aus ihren wenigen Radiointerviews aus.

Der Schnitt und Gegenschnitt zwischen Bild-, Foto- und Tonebene ist oft so schnell, dass kaum jemals das Gefühl entsteht, einem illustrierten Hörspiel beizuwohnen. Und wenn es doch aufkommt, dann deshalb, weil Linda Kuehl eine gute, auch hartnäckige Interviewerin war und ihre Gesprächspartner so lebendig, oft auch schockierend erzählen. Den dramaturgisch-dramatischen Höhepunkt dieser Interview­ebene des Films bildet der packende Schlagabtausch zwischen dem Count-Basie-Schlagzeuger Jo Jones und dem Billie-Holiday-Entdecker und Musikproduzenten John Hammond. Es geht um die Frage, weshalb Billie Holiday aus dem Count Basie-Orchestra ausschied. Weil Hammond in seiner manipulativen Bossiness darauf bestand, dass Billie Holiday gegen ihren Willen vor allem Blues singt, wie Jo Jones behauptet? Oder weil das eingespielte Geld nicht ausreichte, wie John Hammond behauptet? Wer Recht hat, bleibt letztlich offen, obwohl Jo Jones über die gesamte Länge des Films immer mehr zu einer wütenden, aber glaubwürdigen Stimme wird, zu einer Art Nemesis, die den Rassismus anklagt, der – vielleicht mehr als noch als Drogen, Männer und Selbstzerstörung – das Leben der Billie Holiday zerstörte. Jo Jones, und mit ihm der Film, klagt den Rassismus der amerikanischen Gesellschaft an. Den Rassismus der Polizei, die sich Billie Holiday als prominentes, karriereförderndes Fahndungsziel vorknöpfte. Aber auch den des Musikbusiness. Und sogar den des Jazz, der den Rassismus zwar untergräbt, indem er weiße mit schwarzen Musikern improvisieren und jammen, aber dafür die afroamerikanischen Musiker büßen lässt. Erst recht, wenn der Musiker eine Sängerin ist. Eine improvisierende Sängerin, die wie eine Trompete klingt und phrasiert – und die sich traut, mit „Strange Fruit“ gegen alle Widerstände über Lynchmorde und Rassismus zu singen. Und deswegen erst recht die Aufmerksamkeit von Polizei, Justiz und FBI auf sich zieht.

Zum Musikfilm wird „Billie“ dadurch, dass James Erskine Billie Holidays Musik und Gesang in ihren berühmtesten Aufnahmen ausführlich einblendet und erklingen lässt. Vieles davon – etwa ihre packende, geradezu schauspielerische Interpretation von „Strange Fruit“ bei ihrem allerletzten TV-Auftritt in London – kannte man schon von YouTube. Aber auf der Kinoleinwand entfalten sie eine ganz andere Wirkung. Und so verbringt man einen Abend nicht nur über, sondern auch mit Billie Holiday. James Erskine vertraut darauf, dass sich das dokumentarische Material ‚von selbst‘ erzählt. Bis auf Szenen mit Linda Kuehls Schwes­ter arbeitet der Film ausschließlich mit historischen Ton- und Bilddokumenten. Er verzichtet auf Statements von heutigen Experten, Musikern und Biografen, die so viele andere Jazzdokus und -filme totquatschen.

Einen Haken hat der Film aber dann doch. Und zwar ein Schlussproblem. Ein mehrfaches sogar, weil der Film am Ende nicht wirklich weiß, ob er nun ein Billie Holiday- oder Linda Kuehl-Film sein will. So endet der Film gleich mehrfach. Jedes Mal schön und traurig, aber doch so, dass man denkt: Jetzt ist der Film schon wieder zu Ende. Dennoch: ein schönes Weihnachtsgeschenk. Nicht nur für Billie-Holiday-Fans.

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