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Nicolaus A. Huber. Foto: Charlotte Oswald
Nicolaus A. Huber. Foto: Charlotte Oswald
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Orpheus mit Röntgenblick

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Zum 80. Geburtstag von Nicolaus A. Huber
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„Kritisches Komponieren behandelt Probleme, die den Menschen betreffen, aber sich in Musik widerspiegeln.“ Dieses analytische Komponieren gibt Auskunft über Musik und das darin sich niederschlagende menschliche Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln. Im Mittelpunkt steht also nicht die Musik selbst, nur weil man vielleicht gerade zufällig Komponist ist, sondern der Mensch. Das heißt, der Komponist macht nicht einfach Kultur, „sondern leistet Arbeit, nützliche Arbeit für den Menschen“. Diese starken Sätze stehen in Nicolaus A. Hubers kurzem Text „Kritisches Komponieren“ von 1972, der während der politisierten Nach-68er-Jahre auch bei öffentlichen Veranstaltungen verlesen wurde.

Am 15. Dezember 1939 in Passau geboren, erwarb sich Huber im Schulmusik- und dann Kompositionsstudium bei Franz Xaver Lehner und Günter Bialas an der Musikhochschule München solides Handwerk. Doch mit einem Metier hat er sich Zeit Lebens nicht begnügt. Stattdessen brachte und bringt der heute Achtzigjährige immer wieder verschiedene Material- und Lebensbereiche zusammen, um Musik-, Material- und Metierverständnis zu hinterfragen. Frühe Prägungen in diese Richtung erhielt er als Mitwirkender im intermedial agierenden Ensemble „Musik/Film/Dia/Licht-Galerie“ von Josef Anton Riedl. Nachhaltig politisiert wurde er durch Luigi Nono, bei dem er 1967/68 in Venedig studierte und dessen Tonalitätskritik er über das musikalische Material hinaus auf allgemein menschliche Dispositionen ausweitete. Nicht bloß Klang, Technik oder Stil sollten verändert werden, wie es die seriell arbeitende Lehrergeneration getan hatte, sondern deren Grundlage, und zwar radikal im Sinne von Karl Marx: „Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“.

In „Versuch über Sprache“ verknüpfte Huber 1969 verschiedene Bereiche menschlicher Kommunikation und strapazierte sie zugleich durch extrem lange Sinustöne. Standardisierte Erwartungshaltungen an Ereignisdichte, Varianz und Dramatik wurden gezielt unterlaufen. Auf systematische Entreizung zielte 1971 auch „Harakiri“, das Huber weniger als fertiges Werk denn als „Versuchsanordnung“ oder „Arbeitspapier“ verstand und das deswegen durch Auftraggeber und Publikum skandalisiert wurde. Von wenigen Einzeltönen sekundiert, streichen elf Geiger zehn Minuten lang auf der um zweieinviertel Oktaven tiefer gestimmten A-Saite, was kaum mehr als atmosphärisches Rauschen hören lässt. Auch ein Crescendo sorgt schließlich für eher sichtbare denn akustische Steigerung. Nach der plötzlichen Lautsprecherzuspielung eines Donnerschlags und Platzregens erklärt schließlich eine Frauenstimme mit großer Bestimmtheit verschiedene Crescendo- und Decrescendo-Praktiken „in Krieg und Frieden, in Arbeit und Erholung, in Alltag und Feiertag, im Morden und Schonen…“ Weil Crescendo „nicht wertfrei“ ist, sondern durch belebende Wirkung die Hörer zur Auseinandersetzung mit anderem als sich selbst verleitet, lässt Huber es Selbstmord begehen.

Gemäß der Archetypen-Lehre C. G. Jungs zielte Huber auf Verbindungen zwischen Alltag, Religion, Natur, Traum und Kunst. Die verschiedenen Sphären sollten sich gegenseitig aufschlüsseln. Er integrierte Bildende Kunst, Alte Musik, Pop, Texte, Spruchbänder, Spiegel, Tonbänder, CDs, Filme, Videos, Licht, Stofftiere, Schachteln oder Plastikgeschirr. In „Aion“ (1972) sind es Naturgegenstände und Gerüche. Mehr Welt kann Musik nicht aufnehmen. Seit „Darabukka“ für Klavier (1976) blendete Huber mit Hilfe seines Ansatzes „konzeptioneller Rhythmuskonzeption“ verschiedene musikalische Intonationen, Stilanleihen, Körperlichkeiten und Zitate von Arbeiter- und Widerstandsliedern in seine Musik. Von 1974 bis 2003 lehrte er als Professor für Komposition an der Folkwang-Hochschule in Essen. Zu seinem großen Schülerkreis gehören viele intermedial arbeitende Künstler, darunter Gerhard Stäbler, Kunsu Shim, Daniel Ott, Kilian Schwoon, Robin Hoffmann, Hannes Seidl und Martin Schüttler. Die Fülle von Hubers Denken in und über Musik dokumentiert der Schriftenband „Durchleuchtungen“ (2000). Seit 2019 ist sein katalogisierter Vorlass im Archiv der Akademie der Künste einsehbar.

In vielen Werken sprengt Huber die bisherige Logik durch eine „Coda“. Am Schluss von „Mit etwas Extremismus“ (1991) gebärden sich die Musiker in einer „Muskel-Coda“ plötzlich wie Bodybuilder. Das Chorwerk „Ach, das Erhabene...“ (1999) konterkariert die mythologische Erhabenheit der Dichtung von Hölderlin und Gottfried Benn mit einer „Fress-Coda“ aus Schmatzgeräuschen und knisternden Tortilla-Chips. Seit „Weiße Radierung“ für Orchester (2006) überträgt Huber Phänomene der Heisenbergschen „Unschärferelation“ auf Musik. In „Erosfragmente“ (2012) bilden 18 Klangschalen mit je anderen Obertonspektren lange im Raum schwebende Liegetöne, denen als Gegenpol – vermittelt durch klirrendes Toy Piano – kurze Knackfrosch-Akzente gegenüberstehen. Wie die zwischen Materie und Welle schwankenden Elementarteilchen verknüpfen die Klänge nahtlos Punkt, Linie und Raum, indem sie – wie in den anderen Stücken des 2020 auf CD erscheinenden „Sehnsuchtszyklus“ – den Eindruck erwecken, als sehnten sie sich nacheinander. Einmal mehr beweist sich Huber als Orpheus mit Röntgenblick.

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