Der Hund hat die Noten gefressen. So lautet eine der furiosen Ausreden, die Karikaturist Jörg Hilbert dem Klavierschüler im Cartoon „Ich konnte nicht üben weil...“ in den Mund legt. Ein unter Musiklehrern beliebtes Heft, denn das Problem mit dem (Nicht-)Üben ist so zeitlos wie verbreitet. Man versteht es ja auch. Ablenkung lauert allerorten, in einer multimedialen Welt mehr denn je. Die Beschäftigung mit dem Instrument ist zeitaufwendig, kostet Kraft, ermüdet. An diesem Punkt will die englischsprachige Klavier-App „Tido“ helfen. Mit ihr, so haben es sich die Entwickler zum Ziel gemacht, soll das Üben nicht länger Pflicht, sondern Spaß bedeuten.
Das Design spiegelt diesen Anspruch wieder. Mit vielen bunten Kacheln erinnert die Startseite an Playlists von Spotify und Co. „Explore our collections“ steht da, zur Auswahl stehen populäre Stücke, klassische Werke und ein paar Klavierschulen. Außerdem findet man thematische Sammlungen, von Neuveröffentlichungen über beliebte Stücke bis zur „Tonart der Woche“.
Beim Klick auf ein Werk gelangt man ins Innere der Sammlung: Hier stehen verschiedene Medienarten zur Auswahl: Noten, Texte und Videos, eines von der Musik und eines, in dem ein Profimusiker Tipps und Impulse zum Üben gibt. Es zeigt sich darin der Anspruch von Tido, verschiedene Zugänge zur Musik zu bieten. „Wenn ich sage: ‚Beethovens Fünfte’, denkst du vielleicht an eine Aufnahme, an die Noten oder an Karajan, wie er die Sinfonie dirigiert“, sagt App-Gründer Brad Cohen. Er vergleicht Musikwerke gerne mit Edelsteinen: ein Schatz, viele Facetten. Tido soll diesen Reichtum umfassend spiegeln.
2012 hat Cohen das Projekt gemeinsam mit dem Leipziger Notenverlag Edition Peters gestartet. Die vier Jahre bis zur Veröffentlichung 2016 wurden gut investiert: Technologisch wie optisch setzt Tido neue Maßstäbe im Bereich digitaler Noten-Apps. Abgeguckt von vergleichbaren Angeboten wie Carus Choir oder Henle Library haben sich die Macher von Tido die Notenansicht: Da gibt es Features wie ein integriertes Metronom und eine Playalong-Funktion (mit variabler Geschwindigkeit!), auch musikspezifische Zeichen, etwa Akzente, kann man einfügen. Neu ist die Möglichkeit, automatisch blättern zu lassen. Der Klavierton wird dann vom Mikrofon des Tablets aufgenommen und mit dem Notenbild synchronisiert. Eine Funktion, die erstaunlich gut funktioniert und damit einen Schwachpunkt digitaler Noten, nämlich die begrenzte Größe des Bildschirms, beseitigt.
Beeindruckend ist vor allem die mediale Aufbereitung der Hintergrundinformationen. In jedem Musikvideo lassen sich während der Wiedergabe die Kameraperspektiven variieren: Es gibt eine Einstellung von oben auf die Tasten und je eine von links und rechts. Ein Feature, das es ermöglicht, die Spieltechniken der Profis präzise zu analysieren. Das ist hilfreich, da es eben jene Musiker sind, die im Erklärvideo durchs Werk führen. Auch dieser Bereich ist interaktiv: Während in der oberen Bildhälfte die Musiker im Video spielend oder sprechend am Klavier sitzen, läuft unten eine Notenzeile durchs Bild. Die jeweils besprochene Passage ist farbig unterlegt, sodass man die Aussagen mit dem Notentext abgleichen und spieltechnische Tipps in der Praxis testen kann. Für den ersten Satz aus Beethovens Sonate „Pathétique“ erfährt man etwa von Pianist Daniel Grimwood, inwiefern Rhythmik und Chromatik für Spannung sorgen und warum er die Notenwerte der Tonleiter in Takt vier nicht allzu streng nimmt. Die Hinweise variieren inhaltlich in gutem Verhältnis zwischen Zeitgeschichte, Interpretation und Technik, stets sympathisch und niederschwellig erklärt, aber mit Tiefgang.
Die komplexe Auseinandersetzung mit dem Werk wird auch sonst nicht gescheut. So beinhaltet der Text über die Beethovensonate des Autors Emily Kilpatrick gar eine musikwissenschaftliche Analyse – die schicke Optik (klares Schriftbild und viele Bilder) sorgt dafür, dass man sich selbst darauf gerne einlässt.
Die Sammlung „Popular Piano“ wurde erst im Juli veröffentlich und ist momentan noch recht überschaubar. Ein bisschen Jamie Cullum hier, ein wenig Muse und „La La Land“ dort. Bei den meisten Stücken fehlen hier bislang Klangbeispiele, Videos gibt es keine. Das hat wohl auch finanzielle Gründe, denn zu den Produktionskosten hätten die Entwickler bei moderner Musik mit dem Urheberrecht zu kämpfen.
Die Sammlung der Meisterwerke bietet dagegen bereits eine akzeptable Palette an Standards von Bach über Beethoven bis Cage – wöchentlich kommen Werke dazu. Und bereits jetzt muss man sagen: Was der Nutzer für das monatliche Abo von 3,49 e geboten bekommt, ist das Geld allemal wert. Ob die Vielseitigkeit letztlich dazu führt, das Üben zu verbessern, oder ob darin nicht neue Ablenkungen lauern, muss die Praxis zeigen. Dass der Hund das Tablet frisst, ist jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich.