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Peter Eötvös. String Quartets.
Peter Eötvös. String Quartets.
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Physisches für das Sammlerherz

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Tonträger-Bilanz 2019 von Hans-Dieter Grünefeld
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Der persönliche Jahresrückblick der nmz-Phonokritiker. Eingedenk. Es gibt Persönlichkeiten der Kulturgeschichte, deren Wirkung universal war und ist. Wegen ihrer Bedeutung wird periodisch immer wieder auf sie hingewiesen, ihr Œuvre gewürdigt oder neu bewertet.

Ein überrragendes Genie dieses Formats war Leonardo da Vinci, der Maler, Naturwissenschaftler, Ingenieur und, man staune: Musiker war, und zwar Lautenist. Er spielte auf einem selbst gebauten Instrument. Nur welches Repertoire, ist nicht überliefert. Nun hat Denis Raisin Dadre, Leiter des Ensembles Doulce Mémoire, versucht, „Das musikalische Geheimnis des Leonardo da Vinci“ etwas zu lüften, indem er zehn Gemälden des Universalgenies einige emotional und spirituell nahe Kompositionen zuordnete, vor allem von damals in Italien populärer franko-flämischer Herkunft. Inklusive Bildrepros und den Liedtexten begegnet man mit diesen Aufnahmen möglichen Wechselwirkungen zwischen Leonardos Visionen und Musik der Renaissance. (Alpha, Buch & CD)

Synästhesien widmet sich der ungarische Dirigent und Komponist Peter Eötvös, indem er Wortklänge zu Klangwörtern transformiert, nämlich die „Korrespondenz“ zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und seinem Vater Leo­pold als instrumental-dramatisches Antiphon für Streichquartett, bei dem die Konflikte beider Protagonisten exzessiv ausgetragen werden. So entseht Musik durch Textanalyse und zugleich wird an Mozart erinnert. (BMC)

Zu einem Memorial für den italienischen Philosophen und Erzähler Umberto Eco haben sein Schulfreund Gianni Coscia am Akkordeon und der Klarinettist Gianluigi Trovesi sozusagen ein klingendes Postscriptum zum autobiographischen Roman „Die geheimnisvolle Musik (im Original: Flamme) der Königin Loana“ verfasst. Vor allem Referenzen zur Popularkultur der 1950er-Jahre sind präsent, aber nicht als nostalgisch-treue, sondern progressive Interpretationen von Zeitgenossen. Das Duo greift etwa den „Basin Street Blues“ wie ein Zeichen für eine neue Ära (damals) auf, aber auch „Im Nebel“ von Leoš Janácek, um diffuses und zugleich empathisches Gedächtnis zu charakterisieren. Dialogisch durchaus variabel in stilistischen Modi, nähern sich Gianni Coscia und Gianluigi Trovesi den disparaten Erfahrungen eines jungen Mannes. (ECM)

Sogar Giganten des Jazz wie John Coltrane wurden manchmal despektierlich behandelt. Das Tonband einer fünfstündigen Session (1963) ist wegen eines Umzugs der Plattenfirma Impulse! aussortiert und erst 50 Jahre später als privates Masterband der Coltrane-Familie wieder entdeckt worden. Vermutlich als Wiedergutmachung dieser Schlamperei ist nun unter dem Motto „Both Directions At Once“ eine Standard- und erweiterte Deluxe-Edition (2 CDs & 2 LPs, 7 Titel plus 7 Alternate Takes) erschienen, die „kommerziell verwertbare“ und „tendenziell avantgardistische“ Kompositionen balanciert. (Impulse)

Ähnlich ist auch die Aufnahmegeschichte des Musical Prophet Eric Dolphy, wie sie in „The Expanded 1963 New York Studio Sessions“ erzählt wird. Denn mehrere bisher unveröffentlichte Duo-Versionen der „Muses For Richard Davis“ und „A Personal Statement“ als Kombination aus Rezitationen im Kontext eines komplex improvisierenden Quartetts. – Eingedenk solcher Funde und produktiver Aneignung des musikalischen Erbes, können wir uns nur freuen und sehen „auf den Schultern von Riesen“ weiter als zuvor.  (Resonance, 3 CDs)

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