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Ironischer Diskurs über die urbane Hipster-Szene: das Opera-Lab-Video zu Rihannas „Work“. Foto: Oper Lab Berlin
Ironischer Diskurs über die urbane Hipster-Szene: das Opera-Lab-Video zu Rihannas „Work“. Foto: Oper Lab Berlin
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Popkultur goes Opera

Untertitel
Das Opera Lab Berlin als Grenzgänger zwischen den Genres · Von Stefan Drees
Publikationsdatum
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„Who’s Afraid of Pop Culture?“ Zumindest nicht die Mitglieder des Opera Lab Berlin, denn sie beantworten diese Frage mit fünf Musikvideos, in denen Vorlagen aus der jüngeren Popmusikgeschichte auf kreative Weise musikalisch wie visuell neu verhandelt werden.

Der Umstand, dass aufgrund der Corona-Pandemie Live-Aufführungen seit Frühjahr 2020 oft nur unter stark eingeschränkten Bedingungen möglich gewesen sind, hat – dies scheint schon heute absehbar – unauslöschliche Spuren im Kulturleben hinterlassen. In positivem Sinn hat er jedoch auch eine Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Selbstverständnis befördert, die in vielen Fällen das kreative Austasten neuer Gestaltungs- und Präsentationsspielräume nach sich zog. Dies lässt sich auch im Falle des Opera Lab Berlin beobachten, das die Befragung künstlerischer Produktions- und Distributionsprozesse seit jeher als essentiellen Bestandteil seiner Arbeit begreift: Das vom Komponisten Evan Gardner und dem Regisseur Michael Höppner initiierte freie Musiktheaterkollektiv hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2014 konsequent „der Herstellung von zeitgenössischem, wirklichkeitsverbundenem und gattungsübergreifendem Musiktheater verschrieben“ (www.opera-lab-berlin.com). Diesem Interesse entsprechend erprobt sich das Ensemble „in allen musikalisch-darstellerischen Gattungen“ und versteht sich als „ein Labor der Stimme und des Instrumentalspiels“, was sich einerseits auf „Uraufführungen neuer Musiktheaterkompositionen“, andererseits aber auch auf „Gebrauch, Anpassung und Bearbeitung existenter zeitgenössischer Musik für unser Musiktheater“ erstreckt. Wesentliches Prinzip ist in diesem Zusammenhang immer „die gleichberechtigte Zusammenarbeit aller am Musiktheater beteiligten Künstler im Sinne einer kollektiven Autorschaft an der Aufführung“.

Coverversionen

Diese Voraussetzungen treffen auch auf das Projekt „Who’s Afraid of Pop Culture?“ zu, dessen insgesamt fünf Teile von Ende November 2021 an in wöchentlichen Abständen in Form von Musikvideos auf dem YouTube-Kanal des Ensembles veröffentlicht wurden. Die zugrundeliegenden Titel wurden in einem kollektiven Auswahlprozess unter Berücksichtigung unterschiedlicher Genres bestimmt und umfassen Songs aus den zurückliegenden drei Jahrzehnten: „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana (1991), „Seven Nation Army“ von den White Stripes (2003), „Survivor“ von Destiny’s Child (2009), „Bad Romance“ von Lady Gaga (2009) und „Work“ von Rihanna (feat. Drake, 2016). Aus rein musikalischer Perspektive betrachtet, handelt es sich um Beispiele für die im Kontext populärer Musik übliche Praxis des Coverns, die beispielsweise Marc Pendzich in seiner Studie „Von der Coverversion zum Hit-Recycling“ (Münster 2004) ausführlich beschrieben hat: Demnach ist das wichtigste Charakteristikum einer Coverversion, dass sie als „neue Fassung eines zuvor auf Tonträger veröffentlichten“ Musikstücks „von anderen Interpreten“ neu eingespielt oder live dargebotenen wird, trotz gegebenenfalls freieren Umgangs mit dem Ausgangsmaterial aber „das Originalwerk in seinen wesentlichen Zügen erhalten bleibt“ (S. 2). Diesem auf Wiedererkennbarkeit setzenden Prinzip folgen zwar alle fünf Stücke, doch wird die im Bereich der Popkultur vorwiegend performativ ausgeübte Cover-Praxis nun durch Evan Gardner um zusätzliche Verfahrensweisen angereichert und in Partituren als notationsbasierte kulturelle Artefakte überführt.

Tatsächlich hat Gardner weit mehr getan, als die zugrundeliegenden Popsongs unter Beibehaltung ihrer wesentlichen strukturellen Kennzeichen für die gemeinsam erprobten instrumentalen und vokalen Möglichkeiten des Opera Lab zu arrangieren und dadurch in das Format von Miniaturopern, auf YouTube als „Dramatic Opera Covers“ bezeichnet, zu transformieren. Er folgt vielmehr auch der Idee des „Mashup“, indem er klingende Materialien aus anderen Quellen an die Songgerüste anlagert, um auf diese Weise bestimmte Momente des dramaturgischen Verlaufs zu unterstreichen. Hierzu greift er einerseits auf Ausschnitte aus eigenen Kompositionen zurück, die aufgrund ihrer ausgefeilten klanglichen Gestalt die Coverversionen um exquisite Farbgebungen – etwa Flageoletttexturen, mikrointervallische Abschattierungen oder Geräuschfelder – bereichern; andererseits benutzt er aber auch Zitate aus Musik von Ludwig van Beethoven und Frédéric Chopin, um die musikalischen Gestaltungsspielräume über Popkultur, Oper und zeitgenössische Musik hinaus zu erweitern. Da diese Verfahren jeweils in unterschiedlichen Graden von Komplexität angewendet werden, erweist sich jedes einzelne Stück als einzigartige Ausformulierung des Grundkonzepts.

Musikvideos

Mit der Idee, Musikvideos zu den bereits fertigen Song-Covers produzieren zu lassen, folgt das Opera Lab einer weiteren popkulturellen Praxis: An der Einheit aus Text und Musik wird eine visuelle Ebene angelagert, die beispielsweise durch Rückgriff auf ikonografische Signaturen und choreo­grafische Elemente ein weitgehend auf Assoziationen aufbauendes Narrativ erzeugt, das die Deutungsmöglichkeiten des Songtexts sowohl lenken als auch potenzieren oder unterlaufen kann. Die Regisseur*innen der fünf Musikvideos (in der oben genannten Songreihenfolge: Samuel Chalela Puccini, Helena Herb, Dominique Preusse, Lotta Schwerk und Marco Vallini), im Vorfeld aus über 80 Bewerber*innen ausgewählt, folgen dieser Praxis auf jeweils unterschiedliche Weise, wobei sich gelegentlich auch Rückbezüge auf Bild-, Bewegungs- oder filmische Gestaltungselemente der offiziellen Originalvideos zu den Popsongs finden lassen. Fast allen Arbeiten ist allerdings gemeinsam, dass sie an den Texten entlang erzählerische Strategien entwickeln, die sich, wenngleich in einzelnen Aspekten assoziativ bleibend, dem Verständnis von Oper als dramatischer Kunst annähern. Damit umgehen sie das Problem, dass sich die visuellen Klischees von Popmusikvideos oft geradezu kontraproduktiv zu den Songtexten verhalten.

Dies gilt etwa für das offiziellen Video von Destiny’s Child: Während Fans den „Survivor“-Text als Widerhall weiblicher Emanzipation und Befreiung aus einer von physischer Gewalt dominierten Beziehung interpretieren, untergräbt das Video diese Auffassung, indem es den weiblichen Körper im Sinne popkultureller Vermarktungsstrategien durch Choreografie, Gesten und Bekleidung sexualisiert und dadurch wiederum genau jene Zielgruppe anspricht, von der sich die gesungenen Worte dis­tanzieren. Demgegenüber suggeriert das Video von Dominique Preusse eine Liebesgeschichte, deren Höhepunkt die Wiederbegegnung der Liebenden im letzten Drittel bildet. Musikalisch wird dies durch das eigenwillige Arrangement unterstrichen, da Gardner die entsprechende Passage durch Verwendung von Material aus Beethovens Streichquartett op. 74 Nr. 1 hervorhebt und klanglich zum Leuchten bringt.

Ein besonders schönes Beispiel für die kreative Auseinandersetzung mit der Vorlage bietet das Video zur Coverversion von Rihannas „Work“: Während die beiden offiziellen Videos zu diesem Titel einmal im öffentlichen und einmal im privaten Raum ein partnerschaftliches Verhältnis thematisieren und hierfür mehr oder minder explizit die Beziehung zwischen Sexarbeiterin und Zuhälter nahelegen, macht Marco Vallini seine visuelle Erzählung zu einem ironischen Diskurs über die urbane Hipster-Szene. Auch hier ist die kompositorische Gestaltung des Song-Covers eng mit der dramaturgischen Entwicklung der Narration verschränkt: Am Beginn steht, unterlegt von Klavierkaskaden aus Chopins Etüde op. 25 Nr. 12, eine dramatische Sopran-Klage, mit der sich die Bedienung eines Cafés über die in Laptops und Smartphones vertiefte Kundschaft ereifert. Weil den Kunden dadurch das Beste im Leben entgeht, verbietet sie kurzentschlossen den WLAN-Zugang und stellt der Lust an „Work“ die Lust am „Cake“ entgegen. Diese Wendung geht einher mit einer Veränderung der Songvorlage, da Gardner ab der dritten Strophe den weiteren Verlauf der Bearbeitung unter textlicher und musikalischer Einbeziehung von Rihannas Song „Birthday Cake“ (2011) gestaltet, was analog dazu im Video zu einer Schlemmerorgie samt Kuchenschlacht führt.

Weiterschreiben und Kommentieren

Wichtiger noch als die Verschmelzung popkultureller Praktiken mit traditionellen Genres sind allerdings die Umstände von Produktion und Distribution, weil sich hinter ihnen die Umrisse einer Neudefinition künstlerischer Praxis im Bereich der zeitgenössischen Musik abzeichnet. „Who’s Afraid of Pop Culture?“ ist nämlich auch ein gewichtiger Beitrag zur Frage, was zeitgenössische Opern- und Musikaufführungen in einem Video- und Online-Format überhaupt leisten können. Während bisherige Projekte des Opera Lab auf YouTube mit Trailern angekündigt und im Nachhinein mehr oder minder ausführlich dokumentiert wurden, sind die fünf „Dramatic Opera Covers“ explizit für diese Plattform entstanden. Sie folgen damit erstens einer weit verbreiteten Userpraxis, die sich den für das US-amerikanische Urheberrecht zentralen Gedanken des „Fair Use“ im Sinn einer nicht autorisierten Nutzung von geschütztem Material zum Zweck der öffentlichen Bildung und der Anregung geistiger Produktionen zunutze macht. Zweitens aber greifen sie den für die gesamte jüngere Internetkultur zentralen Gedanken des usergenerierten Inhalts auf: Hier ist die Fertigung von Videos als Reaktion auf andere Videos und damit die kommunikative Praxis gegenseitigen Kommentierens durch audiovisuelle Artefakte zum zentralen Verfahren geworden, in dem bereits Bestehendes im Sinn der sogenannten „Vernacular Musical Aesthetics“ beständig weitergeschrieben und weiterentwickelt wird.

Insofern eignet sich das Opera Lab mit den fünf originellen Song-Interpretationen die Grundlagen solch prozesshaften Weiterschreibens an und nutzt dies, um die gewählten Vorlagen um bestimmte Dimensionen zu bereichern. Letzten Endes gehe es dem Kollektiv hier, so Evan Gardner im Gespräch, um die Erkundung musikdramatischer Kontexte, „die mit Klängen und Formen interagieren, die an zeitgenössische Musik erinnern und das Ganze zu einem Paket schnüren, das von einem breiteren Publikum verstanden und nachvollzogen werden kann“. Die Verwendung von Popsongs als Ausgangsmaterial gewährleistet dabei den Bezug auf weltweit verständliche kulturelle Ausdrucksformen, unterstützt aber auch zugleich den Bildungs- wie den Unterhaltungsaspekt des gesam­ten Anliegens. Denn im Grunde besteht das wichtigste Ziel des Projekts darin, die vom Ensemble geschätzten Dinge „in einer Sprache zu vermitteln, die von den Menschen tatsächlich verstanden werden kann und, was noch wichtiger ist, mit der sie sich identifizieren können“.

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