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Stolzer Quellenforscher: Ralf Wehner bei der Präsentation des MWV. Foto: Dirk Brzoska
Stolzer Quellenforscher: Ralf Wehner bei der Präsentation des MWV. Foto: Dirk Brzoska
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Mendelssohn komplett: Ralf Wehner im Gespräch über das neue Werkverzeichnis

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Selten zeitigen Komponistenjubiläen so konkrete Fortschritte in der wissenschaftlichen Aufarbeitung wie der 200. Geburtstag Felix Mendelssohn Bartholdys: Mit dem kürzlich im Rahmen der Mendelssohn-Gesamtausgabe bei Breitkopf & Härtel erschienenen „Thematisch-systematischen Verzeichnis der musikalischen Werke“ ist ein solcher Meilenstein gelungen. Mit Ralf Wehner von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, dem Autor des Mendelssohn-Werkverzeichnisses (MWV), sprach Juan Martin Koch.

neue musikzeitung: Wie kam es zu Ihrer Tätigkeit bei der Mendelssohn Gesamtausgabe und dann zu Ihrer Arbeit am Verzeichnis?
Ralf Wehner: Ich bin seit Mitte der 1980er-Jahre in der Mendelssohn-Forschung aktiv. Als 1992 die Stelle in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eingerichtet wurde, war ich ein junger promovierter Mendelssohn-Forscher mit Editionspraxis. Ich bin also von Beginn an in der Arbeitsstelle „Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy“ und habe sie mit aufgebaut. Bei der Konzeption dieser Gesamtausgabe wurde schnell klar, dass das Fehlen eines Werkverzeichnisses ein großes Manko ist. Die anderen hatten ihren Deutsch, ihren Köchel und ihr BWV, doch wir mussten bei Null anfangen. Wichtig war, erst einmal zu wissen, um welche Mengen an Quellenmaterial es eigentlich geht. So begann die Recherche, aber eben nicht ausschließlich im Hinblick auf das Verzeichnis, sondern in Verbindung mit der Mendelssohn-Gesamtausgabe. 15 Jahre Arbeit an einem Werkverzeichnis, das kann man keinem Geldgeber erklären.

nmz: Welche personellen und zeitlichen Ressourcen sind für ein solches Verzeichnis notwendig?
Wehner: Zwei Leute haben zehn Jahre lang erst einmal gesucht, und auf dieser Materialbasis habe ich mich dann die letzten fünf Jahre ausschließlich um das MWV gekümmert. Das Hauptproblem ist die Verstreuung der Quellen. Im Grunde kann das eine einzelne Person gar nicht leisten. Eine systematische Aufarbeitung solch einer Unmenge von Fakten und Quellen ist nur in einem Forschungsinstitut wie hier an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften möglich. Beim Aufbau der Arbeitsstelle haben wir 1.500 Bibliotheken angeschrieben, 15.000 Auktionskataloge durchgesehen und rund 12.000 Briefe von und an Mendelssohn gelesen …

nmz: Wie kam es zu der Entscheidung, das Verzeichnis nicht komplett chronologisch, sondern nach Werkgruppen zu gliedern?
Wehner: Als ich die 2.500 Quellen auf dem Tisch hatte, wurde klar, dass die Vernetzung des Ganzen noch einmal eine echte Herausforderung ist. Es ging darum, diese Fülle in ein praktikables System zu bringen. Ich wollte einen verständlichen Zugang zum Werk schaffen. Mendelssohn hat zwar große Teile seines Werkes chronologisch datiert, etwa den ersten Abschluss eines Autographs, hat aber andererseits über lange Zeiträume an einem Werk gearbeitet, was die zeitliche Einordnung verunklart. Deshalb habe ich die Einteilung in Werkgruppen gewählt, innerhalb derer man dann chronologisch verfahren kann.

nmz: Wie hat sich Mendelssohns von ihm selbst so bezeichnete „Revisionskrankheit“ auf das Verzeichnis ausgewirkt?
Wehner: Es wurde nötig, den Quellenbestand weiter aufzusplittern, da gibt es dann zum Beispiel Autograph A, B und C, und das können dann unterschiedliche Fassungen sein. Hinzu kommen dann noch Fassungen für verschiedene Instrumente, also Arrangements. Die wurden durch eine eigene Rubrik, die unter dem Titel steht, berücksichtigt. Man sieht also gleich: Von diesem Stück gibt es eine originale Bearbeitung. Paradebeispiel ist das Scherzo aus dem Oktett, das in nicht weniger als vier Varianten existiert: Oktett, Klavier zu vier Händen, Klavier zu vier Händen plus Geige und Cello und für volles Orchester als Alternativsatz innerhalb der ersten Sinfonie.

nmz: Das MWV ist als „Studien-Ausgabe“ bezeichnet. Was heißt das, was bleibt einer späteren Ausgabe vorbehalten?
Wehner: Der Begriff meint, dass die Ausgabe erst einmal alle Grundinformationen liefert: Incipit, Datierung, Quellenstandort, Titelbezeichnung, Signatur, konkrete Nachweise. Anders als in den großen Werkverzeichnissen üblich fehlen aber ausführliche Belege über die ersten Veröffentlichungen oder frühe private Aufführungen, Verlagsanzeigen, Belege für Datierungen, Rezensionen, konkrete Provenienzen der Quellen, Blattzahl, Wasserzeichen et cetera. Das kann dann in einer späteren Ausgabe, die wahrscheinlich zwei Bände à 1.000 Seiten umfassen wird, folgen. In der Studienausgabe werden jedoch viele Leute so viel Neues erfahren, dass sie diese Informationen nicht vermissen werden. Bei der Quellenfluktuation war es jetzt nach 14 Jahren Gesamtausgabe wichtig, einen „Zwischenbericht“ zu geben, in der Hoffnung, dass der eine oder andere Quellenbesitzer jetzt mal aus der Deckung kommt. Und andere Forscher werden angeregt, darüber nachzudenken, wo sich diese oder jene Quelle befinden könnte. Die Erfahrung zeigt, dass das Erscheinen von Werkverzeichnissen die Forschung immer vorangebracht hat.

nmz: Gab es für Sie bei der Erarbeitung Überraschungen, Entdeckungen?
Wehner: Beeindruckt hat mich, in welcher Breite Mendelssohn operiert hat. Andere Komponisten des 19. Jahrhunderts haben sich auf bestimmte Gattungen spezialisiert, Klaviermusik oder Oper. Hier aber zeigt sich eine universelle Breite, Mendelssohn hat praktisch jede im 19. Jahrhundert übliche Gattung bedient. Das ist die eigentliche Entdeckung, das hat mich begeistert. Was den Blick weitet, ist außerdem die Vielfalt der Fassungen, die ein völlig neues Licht auf einen Komponisten wirft, von dem es ja bisher hieß, er hätte glatt, genial und in einem Wurf komponiert.

nmz: Welche Werke Mendelssohns, die in der alten „Gesamtausgabe“ nicht enthalten waren, haben sich im Repertoire mittlerweile etabliert?
Wehner: Es gibt ganze Werkgruppen wie die Jugendsinfonien oder im Kammermusikbereich die Klarinettensonate. Aber auch die frühen Lieder, die erst jüngst durch den Projektleiter der Ausgabe, Christian Martin Schmidt, herausgegeben wurden, scheinen sehr gut angenommen zu werden. Dann erschien ja in den 1980er-Jahren die geistliche Vokalmusik. Das hat ziemliche Impulse gegeben. Aber generell hört man nach wie vor nur etwa 20 Werke wirklich regelmäßig. Es gibt nun allerdings keine Ausrede mehr dafür, nach dem Motto: Ich hätte ja gerne etwas anderes gespielt, wusste aber nichts davon.

nmz: Gab es im Jubiläumsjahr CDs, über die Sie sich besonders gefreut haben?
Wehner: Schön sind immer Repertoireerweiterungen durch Fassungen: Vom Klavierduo Tal/Groethuysen gibt es Bearbeitungen des Oktetts und der ersten Sinfonie, und Riccardo Chailly hat alternative Fassungen der Schottischen Sinfonie und der Hebriden-Ouvertüre aufgenommen. Von Roberto Prosseda, der in der Chailly-Aufnahme das so genannte dritte Klavierkonzert spielt, gibt es außerdem eine hörenswerte CD mit frühen Klavierwerken. Darüber hinaus gibt es noch viel weiteres bei Mendelssohn, nicht nur im CD-Bereich, zu entdecken – der Schlüssel dazu liegt nun in Buchform vor: im neuen Mendelssohn- Werkverzeichnis.

Ralf Wehner: Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie XIII, Band 1A). 685 Seiten, Ganzleinen, BV 317, ISBN 978-3-7651-0317-9, 128 Euro

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