Hauptbild
Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XIX. Jg. 1970, Nr. 1 (Februar/März)
Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XIX. Jg. 1970, Nr. 1 (Februar/März)
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Rückblende: Vor 50 Jahren – Das emanzipierte Streichquartett

Untertitel
Neue Stücke in Stuttgart und Baden-Baden / Ligeti-Uraufführung
Publikationsdatum
Body

„[…] Schwerpunkt im Baden-Badener Abend des La-Salle-Quartetts war die Uraufführung des zweiten Streichquartetts von György Ligeti. Sein erstes Quartett „Metamorphoses nocturnes“ (1953) stammt noch aus seine Budapester Zeit, steht wohl noch unterm Einfluß Bartóks. Die besondere Bedeutung des zweiten Quartetts liegt in seinen synthetischen Zügen. Neu sind weniger die Mittel als ihre Konstellationen, die dialektische Verschlungenheit avanciertester Passagen mit im Grunde traditionellen Modellen.

Auch unter diesem Aspekt wird Ligetis neues Quartett als stilistische Summa, gebrochen freilich durch das Prisma der technischen wie klanglichen Möglichkeiten der vier Streicher. Die teils gleichmäßig huschenden und schwirrenden wie auch weiterintervallig-bizarren, erregt hin- und herschießenden Figurationsfelder vor allem aus dem zweiten Satz des Cellokonzerts und der „Ramifications“ finden sich im ersten Allegro nervoso ebenso wie gläserne Flageolettklänge. Ganz statisch ist auf weite Strecken das Sostenuto molto calmo gehalten, das nicht nur an Ligetis „Lux aeterna“, sondern auch an das Adagio von Bruckners Achter denken läßt, schwebende Pseudo-Tonalität suggeriert.  Der dritte Satz ist „Come un meccanismo di precisione“ überschrieben und klingt fast wie ein ironisches Pizzicato-Perpetuum mobile, wie man es von Ligeti nicht unbedingt erwartet haben mag. Im „Presto furioso, brutale, tumultuoso“ („ist in übertriebener Hast, wie verrückt zu spielen“) dominiert dramatisch-forcierte Aggressivität. Im abschließenden „Allegro con delicatezza“ – stets sehr mild – erinnert nicht nur die ergänzende Vortragsbezeichnung, sondern auch das sanft-schwerelose Terzengeschaukel an das „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ der „Walküre“.

In diesen Momenten transformierten Wohllauts aus dem neunzehnten Jahrhundert steht Ligetis Quartett seinem „Lontano“ nahe. Die neoharmonische Komponente Ligetis scheint immer unverkennbarer. Die akribische Exaktheit, mit der Ligeti seine Partituren notiert, führt immer wieder zu Unbestimmtheiten des Ergebnisses. Seine Musik klingt dabei oft einfacher als das Notenbild aussieht, erhält aber gerade durch diese Abweichungen einkalkuliert unerwartete Differenzierungen.

Minuziöses und Diffuses sind bei Ligeti ebenso dialektisch dicht aufeinander bezogen wie äußerste Progression und Tradition. So dürfte es auch kein Zufall sein, daß das Quartett nicht nur an zurückliegende Kompositionen, sondern auch an eine noch nicht vollendete denken läßt. Denn die Fülle Phantastischer gestischer Charaktere, deren Unberechenbarkeit und Exaltiertheit  an die „Aventures“ und „Nouvelles Aventures“ erinnert, macht neugierig auch auf das größere musiktheatralische Werk, das er für die Stockholmer Oper schreibt.

Gerhard R. Koch, Neue Musikzeitung, XIX. Jg. 1970, Nr. 1 (Februar/März)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!