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Schildkrötentango, Mail-Musik, artikulierte Langeweile

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Kurzkritiken zur Neuen Musik von Max Nyffeler
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Computergestütztes Komponieren ist heute nichts Außergewöhnliches mehr, von hoffnungslos dilettantisch bis hochgradig elaboriert existiert es in allen Varianten.

Zur gekonnten Sorte gehört Wolfgang Mitterers „Music for checking e-mails (giving the illusion of depth)“. Geräuschhafte Rhythmen und verfremdete tonale Samples von Barock bis Modern werden technisch perfekt gemixt oder ziehen in gewaltig aufgeblähten Klangräumen als Klangschwaden ihre Kreise. Ironie oder tiefere Bedeutung? Jedenfalls ein sauber produziertes Easy-Listening-Angebot als Klangtapete nicht nur zum Mailen, angesiedelt irgendwo zwischen In und Out, Draft und Trash. (col legno, WWE 2CD 20289)

Auch der 30-jährige Slowene Vito Žuraj, der bereits in der Ensemble Modern Akademie und im ZKM arbeitete, komponiert mit dem Computer, doch klingt bei ihm alles viel spontaner, zupackender, farbiger. Nicht zuletzt deshalb, weil bei ihm auch in den Werken mit Computer stets noch die Körperlichkeit des Live-Musizierens durchschlägt. Der Übergang von den reinen Instrumentalstücken zur Elektronik ist fließend; beiden gemeinsam sind eine überschießende Klangfantasie und ein gestischer Erfindungsreichtum, der immer wieder überrascht. (Edicije DSS 200868, www.dss.si)

Die Musik von Martin Schüttler ist dagegen das Anti-Spaßprogramm schlechthin: schäbige, von Störgeräuschen überlagerte Vokalisen, scheppernde Schlagzeugakzente, hinkende Zeitverläufe, ein plötzliches Sich-Festbeißen an zufällig gefundenen Klängen. Sie will alles sein, was der Fall ist, nur nicht schön, und laut Booklet ist sie sogar ein Stück weit „verkörperte Lustlosigkeit, artikulierte Langeweile“. Der kühl disponierende Komponist versteht seine beschädigten Klänge als kritischen Kommentar zur Realität. Man fragt sich nur, welcher. Aber das Leben hat bekanntlich viele Facetten … (Wergo 6575 2)

… darunter auch diese: Mit Schildkrötentango, Einsiedlerkrebstango und einer Beatles-Paraphrase beginnt die originelle CD mit Klaviermusik von Per Nørgård, mit „Vier Skizzen“, komponiert nach mittelalterlichen Konstruktionsprinzipien, schließt sie. Dazwischen: ein buntes Kaleidoskop von Klein- und Kleinstformen, liebenswürdig und leicht spleenig, voll leisem Humor und stets detailgenau gezeichnet. Aufmerksamer Führer durch die fantastische Miniaturenwelt ist der dänische Pianist Erik Kaltoft. (Dacapo 8.226089)

Ein Cembalo ist mehr als ein Cembalo: Auf ihrer CD „Wired“ demonstriert die herausragende Cembalistin Jane Chapman, zu was das zirpende Instrument fähig ist, wenn es wie hier von acht britischen Komponisten, teils mit Hilfe der Elektronik, von seiner barocken Perücke befreit wird. Raschelnde Geräuschtexturen der nackten Mechanik, Skordatura-Eingriffe bei lebendigem Leib, rauschhafte Klangverdichtungen und das Spiel mit Interferenzen mittels E-Bow machen aus ihm ein faszinierendes Hyperinstrument. (NMC D 145)

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