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Jörn Peter Hiekel. Foto: INMM/Christoph Rau
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Schulterschluss zwischen den Disziplinen

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Jörn Peter Hiekel vom Darmstädter Institut für Neue Musik und Musikerziehung im Gespräch
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Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt versteht sich als Forum des interdisziplinären Diskurses zwischen Produktion, Reproduktion und Reflexion innovativer künstlerischer Konzepte der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit und ihrer musikpädagogischen Vermittlung. Im Rahmen seiner Frühjahrstagung schafft das Institut durch Konzerte, Vorträge, Seminare und Workshops Möglichkeiten der Information, der Diskussion und des Erfahrungsaustausches zwischen Komponisten, Interpreten, Wissenschaftlern, Pädagogen und einer musik- und kunst­interessierten Öffentlichkeit. Für den Vorstandsvorsitzenden Jörn Peter Hiekel ist die Tagung unter dem Titel „ÖFFENTLICH/privat. (Zwischen)Räume in der Gegenwartsmusik“ vom 24. bis 27. April 2019 die letzte, die er mitverantwortet. In diesem Jahr will er als Vorsitzender des Instituts aufhören. Anlass für ein Gespräch mit dem Musiktheoretiker und Professor für Musikwissenschaft/Neue Musik an der Hochschule für Musik Dresden.

neue musikzeitung: Jörn Peter Hiekel, seit 2013 sind Sie einer der Leiter der Darmstädter Frühjahrstagung, seit 15 Jahren im Vorstand des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM). Warum wollen Sie jetzt aufhören?

Jörn Peter Hiekel: Es ist für mich eine sehr gute und inspirierende, oft sogar beglückende Erfahrung, im Team mit Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Fachbereichen und mit verschiedenen Erfahrungshorizonten zu arbeiten und sich zu wichtigen und brisanten Themen auf produktive Weise zusammenzufinden, um dabei auch Jahr für Jahr selbst etwas zu lernen. Warum aufhören? Es ist für jede Institution wichtig, dass es auch mal Wechsel gibt. Doch auch ein egoistischer Aspekt spielt eine Rolle: Ich habe sehr viele andere Projekte, etwa meine Hochschultätigkeit, Forschungsprojekte und nicht zuletzt Buchprojekte. Die Zeit, die frei wird, ist schnell wieder „aufgefressen“.

nmz: Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht das INMM?

Hiekel: Versucht man insgesamt die Bedeutung des Instituts zu beschreiben (darüber gibt es ja eine Fülle von journalistischen Artikeln), muss man wohl beginnen mit dem oft herausgestellten konservativen Habitus von Fächern wie Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Musiktheorie. Das INMM ist seit Jahrzehnten dazu da, erstens diese Disziplinen, die früher oft aneinander vorbei agierten, auf produktive Weise miteinander und mit dem Komponieren der Gegenwart ins Gespräch zu bringen, zweitens sie zu stimulieren mit immer neuen und kritischen Fragen und diese möglicherweise auch zu beantworten und drittens damit den antimodernen Duktus zu überwinden, der in Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so gängig war und von dem es Nachklänge manchmal auch heute noch gibt. Das Institut steht an diesem Punkte schon seit Jahrzehnten, also spätestens seit der Zeit, in der Persönlichkeiten wie Carl Dahlhaus die Geschicke lenkten, in einer aufklärerischen Tradition. Diese hat nicht zuletzt damit zu tun, jene durch Polarisierungen entstandenen viel zu einfachen Beschreibungsmuster der Neuen Musik zu korrigieren, die in manchen Bereichen der Musikkultur zu unguten konservativen Haltungen beigetragen haben.

Darmstadt ist dafür ein großartiger Ort, gerade im Musikbereich ist es der Ort des Aufbruchs und des Querdenkens. Dies gilt für dieses Institut und seine starke pädagogische Tradition ebenso wie für die Darmstädter Ferienkurse, mit denen wir an vielen Punkten kooperieren. Aus solchem Bewusstsein heraus, das in der Stadt erfreulich tief verankert ist, ist Darmstadt ein besonders geeigneter Platz dafür, alte Verkrus­tungen aufzubrechen. Das gilt für die Aktivitäten beider Institutionen – und als wichtiger weiterer Partner, der Reflexion mit Praxis verbindet, ist hier auch das Jazz-Institut zu nennen.

nmz: Wie sieht Ihr Rückblick nach 15 Jahren im Vorstand aus? Denkt man eher an Erfolge oder an Krisen?

Hiekel: Wir haben in den vergangenen 15 Jahren keine nennenswerten Krisen erlebt. Versucht man die Habenseite zu beschreiben, gelangt man, wenn ich das richtig sehe, zu manchen Punkten, an denen die Tagungen und die aus ihnen resultierenden Veröffentlichungen wirklich etwas angestoßen haben. Denn wir wollen mit unseren Themen nicht offene Türen einrennen, sondern neue oder brisante Fragen aufgreifen, auch solche, die woanders nicht behandelt wurden.

Ich nenne mal ein Beispiel, das diesen Anspruch vielleicht verdeutlicht: Vor über zehn Jahren haben wir auf einer Frühjahrstagung bereits über Spiritualität in der Neuen Musik gesprochen. Damals war dieses Thema für manche noch etwas gewöhnungsbedürftig. Insofern überraschte uns die enorme Resonanz und die Hingabe zu diesem Thema, die nicht nur bei den bei der Tagung anwesenden Komponisten wie etwa Dieter Schnebel, Hans Zender oder Mark Andre festzustellen war, die man mit diesem Thema seit langem verbindet, sondern auch bei jenen Persönlichkeiten, die dieses Thema gewissermaßen neu zu denken versuchten, also etwa Heinz-Klaus Metzger, Dieter Mersch oder Helga de la Motte. Die durch Tagungen wie diese erzeugte Resonanz, die an Fällen wie diesen stark auch mit interkulturellen Positionen zu begründen ist, hat wohl nicht zuletzt auch mit den Tagungsbänden zu tun. Diese sind bewusst mehr als bloße Dokumentationen, zumal in die Beiträge auch meist die Ergebnisse der Diskussionen und Prozesse der weiteren Reflexion einfließen. Durch die Buchreihe wird die überregionale Wahrnehmung der Aktivitäten sicherlich erheblich begünstigt.

nmz: Die diesjährige Tagung vom bis steht unter dem Titel: „ÖFFENTLICH/ privat. (Zwischen)Räume in der Gegenwartsmusik“. Es geht um die aktuelle Diskussion über absolute Musik versus Gehaltsmusik,  aber auch um die Resonanzen des Privaten in Musikwerken. Steht uns ein neues Biedermeier bevor? Und wird es einige Kontroversen auf der nächsten Frühjahrstagung geben?

Hiekel: Kontroversen sind ja stets zu erhoffen. Auf der Suche nach Themen mit Brisanz wäre es traurig, würde man nur zufrieden sein, wenn sich alle einig wären. Seit etwa zehn Jahren werden zu unserer Frühjahrstagung stets unterschiedliche Komponistinnen und Komponisten mit bewusst sehr unterschiedlicher Ästhetik eingeladen. Dementsprechend divergieren dann auch die Antworten auf die zentralen Fragestellungen. Doch gerade durch Reibungen und Diskussion entsteht oft erst die produktive Atmosphäre.

Das Thema „Öffentlich und/oder privat“ birgt gewiss verschiedenste Antworten in sich. Nehmen wir nur die beiden in einem Doppelportrait kombinierten Komponisten Simon Steen- Andersen und Mark Andre, die beide auf die öffentliche Dauerpräsenz von Musik reagieren und in einem faszinierenden Maß eine Sensibilisierung für das Hören bieten, aber dies mit erheblich unterschiedlichen kompositorischen Ideen und Verknüpfungen. Doch auch andere der zur diesjährigen Tagung Eingeladenen kann ich hier erwähnen: Manos Tsangaris etwa ist als wichtiger Stichwortgeber mit seinem Werk, aber auch als Ideengeber für die nachfolgende Generation dabei. Zeynep Gedizlioglu, Julia Mihály oder Yuval Shaked bringen einen jeweils spezifischen politischen Erfahrungshorizont mit. Stefan Prins, Martin Schüttler oder auch Trond Reinholdtsen operieren in ihren auf das Thema beziehbaren Arbeiten mit manchmal atemberaubenden Verknüpfungen mit anderen Medien, um Fragen zu stellen, die im Musikbereich bislang schlicht nicht vorkamen. Schon diese kurze Aufzählung zeigt, dass es uns nicht zuletzt darum geht, die thematische Diskussion mit der Begegnung mit einem ungewöhnlich vielfältigen Reigen von künstlerischen Ansätzen zu verbinden, auch natürlich mit jenen, die außerhalb von Mitteleuropa entstehen. Ganz bewusst haben wir in jüngerer Zeit nicht nur bei den Wissenschaftler/-innen, sondern auch an diesem Punkte eine größere Internationalisierung angestrebt.

nmz: Das Anspruchsvolle an der Darmstädter Tagung liegt nicht nur im ästhetischen Diskurs in Form von Konzerten, sondern auch in der Begegnung des komponierenden und interpretierenden Künstlers mit dem Laien, den Schülern und auch mit den Lehrenden, den Musikpädagogen – wie kann das gehen?

Hiekel: Ja, tatsächlich ist die besonders enge Verknüpfung von Konzerten und Reflexionen ein Erkennungsmerkmal der INMM-Tagungen. Früher gab es dabei eine Auffächerung der Aktivitäten mit sehr vielen Parallelveranstaltungen für die verschiedensten Fachdisziplinen. Diese Trennung ist bewusst aufgehoben worden, um jenen Dialog anzustoßen, den es an manchen anderen Orten aus meiner Sicht etwas zu wenig gibt und der selbverständlich auch Persönlichkeiten aus nichtmusikalischen Fächern einschließt. Diese Fusionierung der verschiedenen Komponenten, die auch eine größere Zuhörerschaft bei den Reflexionsveranstaltungen bewirkt hat, scheint mir eine wichtige, inzwischen bewährte Änderung gegenüber früher zu sein. Hierzu passt wohl, dass wir mit verschiedenen Formaten des Darbietens wie zum Beispiel Workshops, Roundtables oder Lecture-Konzerten Abwechslung in den Tagungsablauf bringen, zumal wir ja ganz bewusst keine universitäre Wissenschaftstagung ausschließlich für Spezialisten sein wollen. Dennoch erhoffen wir uns von allen Komponierenden einen gut vorbereiteten Vortrag mit modernen Darbietungsweisen.

Alles das zielt auf den Schulterschluss zwischen den Disziplinen. Dabei lässt sich auch das Projekt „Campus Neue Musik“ für Jugendliche und Studierende bestens integrieren, also eine vor zwei Jahren begonnene, völlig neue pädagogische Initiative. Für die Grundschüler, welche abschließend mit ihren Ergebnissen präsentiert werden, wird jedoch eine Extrastrecke geplant.

nmz: Kann ich als Student der Musikpädagogik, der Komposition oder der Musikwissenschaft auch Credit Points bei der Frühjahrstagung erwerben?

Hiekel: Studierende machen mittlerweile einen beständigen und großen Teil der Teilnehmerschaft aus. Hier treffen sie auf andere Studierende, manche kommen sogar als Gruppen und nehmen die Tagung als Seminar, für die sie sich sogar Credit Points anrechnen lassen können, aber bei denen die sozialen Kontakte wohl noch wichtiger sind. Dies alles hat sich bewährt und schafft eine junge, neugierige Atmosphäre, die ich als sehr beglückend empfinde, genauso wie viele unserer angestammten Mitglieder, die zum Teil ja schon seit mehreren Jahrzehnten kommen. Im optimalen Fall kann so auch ein Austausch zwischen ganzen Generationen stattfinden.

nmz: Wie geht es weiter? Wer wird Ihre Nachfolge antreten?

Hiekel: Es gibt Neuwahlen und einige der Vorstandsmitglieder wollen erfreulicherweise weitermachen. Derzeit weiß ich dies etwa von Matthias Handschick und Wolfgang Lessing, zwei der sehr inspirierenden Kollegen, die ja schon in den letzten Jahren wesentlich Anteil hatten an den Tagungen. Wegen der Nachfolge habe ich wenig Sorgen.

Das Gespräch führte Andreas Kolb

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