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Für Pierre Henry, einen der gro­ßen Pioniere der elektronischen Musik, war prinzipiell alles, was klingt, ein potenzielles Kompositionsmaterial.
Für Pierre Henry, einen der gro­ßen Pioniere der elektronischen Musik, war prinzipiell alles, was klingt, ein potenzielles Kompositionsmaterial.
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Seltsame Riten, dunkle Hallräume

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Musik von und mit: Pierre Henry, Michael Ranta, Vinko Globokar und dem BIT 20 Ensemble.

Das BIT 20 Ensemble besteht aus Mitgliedern des Sinfonieorchesters der Stadt Bergen und ist zugleich eines der wenigen größeren skandinavischen Ensembles, die auf zeitgenössische Musik spezialisiert sind. Im Kontext des norwegischen Bergen Festivals entwickelte sich auch die Zusammenarbeit mit Vinko Globokar, deren vorläufiger Gipfelpunkt diese fabelhafte Einspielung einiger Ensemblestücke jüngeren Datums ist. Die klingen oft wie improvisiert, das Chaos ist jedoch vom Komponisten durchgestaltet bis ins kleinste Detail. Im expressiven Flickenteppich von „Les Soliloques décortiqués“ für 16 Musiker (2016) darf jeder Spieler 90 Sekunden lang solistisch in den Vordergrund treten und seine Mitstreiter mit unkonventioneller Instrumenten-Handhabe mitreißen. Ergebnis ist ein turbulenter musikalischer Comic-Strip von hoher Ereignisdichte, in dem intensiver Gebrauch von der Stimme gemacht wird. Die wird dann endgültig bühnenreif in „Soprana Tapaguese Sur Ache de Noë“ (2015), wo Vokalperformerin Alwynne Pritchard einen grotesken Ritus aus Fantasiesprache, Textfragmenten, Tierlauten und exotischen Perkussionsinstrumenten aufführt, die mit allen Gliedmaßen bedient werden. Auch „Kaleidoskop im Nebel“ für Kammerensemble (2012/13) macht seinem Titel alle Ehre und entpuppt sich als undurchsichtiges Gewirr aus irrlichternden Sprachfetzen und instrumentalen Versatzstücken mit schrillen Spuren anderer Musik. (Kairos)

Der Komponist und Perkussionist Michael Ranta, Schüler von Harry Partch und Mitglied im Ensemble Stockhausens, war ein früher Grenzgänger zwischen Europa und Asien. 1989 hatte er als Auftragswerk der Oper Ulm eine „Ballettmusik“ geschrieben, deren naheliegender Titel völlig falsche Erwartungen weckt: „Die Mauer“ war weder affirmative Jubelmusik zum historischen Anlass noch eine politische Komposition, sondern ein ganz und gar eigenwilliges Amalgam aus Elektronik und Perkussionsklängen, das sich in spirituell-reflexiver Weise mit dem „Prinzip“ Mauer als geistige und physische Grenze auseinandersetzte. Die elf Sätze/Szenen beherbergen nicht nur unüberhörbare Einflüsse außereuropäischer Musik, sondern so manche handfeste Überraschung: zum Beispiel den wunderbaren 15-minütigen „Danse General“, dessen konzentriert groovende Motorik wie eine Vorahnung von Minimal Techno anmutet. Die schrägen Mischwesen aus Glockenklängen, düs­teren Trommeln, Streicherflirren und deren elektronische Transformationen klingen (mal statisch, mal rhythmisch, oft deutlich asiatisch gefärbt) in ihrer Kontemplation und Evokation seltsamer Riten oft so rückhaltlos esoterisch und fern tagespolitischer Allgemeinplätze, dass das von Ranta komplett selbst produzierte Werk rückblickend als echte Trouvaille betrachtet werden muss! (Metaphon)

Für Pierre Henry, einen der gro­ßen Pioniere der elektronischen Musik, war prinzipiell alles, was klingt, ein potenzielles Kompositionsmaterial. Das können spielende Kinder im Hinterhof genauso sein wie Kompositionen vergangener Jahrhunderte. Beide Sphären vermischen sich in „Carnet de Venise“ (2002) höchst kunstvoll aufeinander abgestimmt zu einer poetischen Hommage an Venedig. Die Bauwerke, Plätze und Kanäle der Lagunenstadt spiegeln sich in dunklen Hallräumen, metallenen Echos, rhythmisierten Licht- und Wellenspielen, Glocken, Stimmen, Bootsmotoren und Wassergeräusch, in das immer wieder ganz organisch Ausschnitte aus Madrigalen Monteverdis verwoben werden. Die „Promenade dans Venise en compagnie de Monteverdi“, so der Untertitel dieses klingenden „Notizbuches“, mischt Vergangenheit und Gegenwart, Alltag und Kunst zu einer elektroakustischen Melange jenseits der Zeiten, wo sich hybrides Material ganz natürlich in- und zueinanderfügt. Manchmal hört sich das so an, als würde Monteverdis Musik tatsächlich da draußen geschehen und vom Wind in wechselnder Deutlichkeit durch den Stadtraum geweht werden oder eben anders herum: als drängten die gefilterten und artifizialisierten Geräusche der Stadt in diese Musik hinein als wären sie schon immer ihr angestammter Bestandteil gewesen. (Stradivari/harmonia mundi)

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