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Volker Hagedorn: Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 448 S., Abb., € 32,00, ISBN 978-3-498-00201-5
Volker Hagedorn: Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 448 S., Abb., € 32,00, ISBN 978-3-498-00201-5
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Sprudelndes Panorama

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Volker Hagedorn über die Musikgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts
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Heute liegt er in Passy begraben, in Sichtweite des Eifelturms, schräg gegenüber vom touristenbevölkerten Trocadéro. Gewohnt hat Claude Debussy im Nachbar-Arrondissement, in der Rue Cardinet. Gleich zu Beginn des neuen Buches von Volker Hagedorn werden wir Zeuge, wie der Schriftsteller Maurice Maeterlinck die Treppen in eben jener Rue Cardinet hochrennt, bei Debussy klingelt und seine Wohnung betritt. Nur wenige Seiten später sind wir 1050 km weiter, in Berlin, im damaligen Hotel Reichshof, das später mit dem Hotel Adlon fusioniert ist. Hier begegnen wir im Festsaal einer 44-jährigen Dame, Musikerin, Komponistin: Ethel Smyth.

Dieses ungleiche, aber für seine Zeit auch bezeichnende Duo Smyth-Debussy führt durch eine bewegte Zeit, eine Epoche, die auf den Ersten Weltkrieg und damit auf eine Katastrophe zusteuert. Es fungiert in Hagedorns „Flammen“ als real-imaginäres Reiseführer-Tandem. Real, weil Hagedorn anhand vieler Fakten über Leben, Arbeit, künstlerische Rahmenbedingungen und vieles andere mehr berichtet; imaginär, weil eben nicht alles, was er schreibt, exakt verbürgt ist, denn wir alle waren schließlich nicht dabei, als Maeterlinck bei Debussy an der Wohnung geklingelt hat. Wir wissen auch nicht, ob Madame Wittgenstein wirklich ihre kostbare Autographen-Sammlung auf dem eigenen Flügel ausgebreitet liegen hatte. Imaginär also, weil wir der Fantasie des Autors vertrauen müssen, um uns auf die Reize dieses soghaften Buches einzulassen.

Methodisch macht Hagedorn da weiter, wo er mit „Der Klang von Paris“ 2019 aufgehört hat. Inhaltlich bleibt eine Lücke. Der Paris-Band endete mit dem Jahr 1867, jetzt beginnt alles, von einigen Rückblenden abgesehen, im Jahr 1900. Schon nach Erscheinen des Paris-Buches gab es Stimmen, die mit Hagedorns Technik ihre Schwierigkeiten hatten: er überschreite die Grenzen des Sachbuches, indem er (zu) frei erzähle. Diese Kritiker werden ihre Argumentation auf „Flammen“ eins zu eins übertragen können. Es gibt aber auch eine Kehrseite, die der Autor selbst mit dem Begriff „Musikerzählung“ definiert. Denn Sachbuch und freies Erzählen gehen hier Hand in Hand, dies aber mit einer solchen Präsenz, mit einer fast filmischen Konkretheit und Anschaulichkeit, wie es keinem Sachbuch im strengen Definitions-Sinne jemals möglich wäre.

Hagedorn entwirft ein europäisches Kultur-Panorama, er zeigt eine sich internationalisierende Welt mit der Musik als pars pro toto für andere Künste und das politische Geschehen der Zeit. Er fächert die unterschiedlichen Musiksprachen zweier Jahrzehnte auf: in Wien mit dem Ende der Ära Gustav Mahler und der keimenden Zweiten Wiener Schule; er führt uns nach England zu Edward Elgar, in die musikpulsierende Metropole Berlin und eben nach Frankreich, wo die musikalische Landkarte mit Ravel und Debussy ebenso neu vermessen wird wie durch die Erfolge der „Ballets russes“ mit Diaghilew und Strawinsky.

Die Herausforderung für einen Autor besteht darin, die vielen simultanen Prozesse und ihre jeweiligen Wechselwirkungen in eine erzählchronologische Ordnung zu bringen. Dazu dienen Hagedorn Debussy und Smyth als Protagonisten. Bei ihnen laufen die Fäden der Erzählung immer wieder zusammen. Dabei geht der Autor nie voyeuristisch vor, auch wenn wir in die Wohnstuben ebenso schauen können wie in die Befindlichkeiten der Personen. Es ist und bleibt eine feuilletonistische Darstellung mit unzähligen belegbaren Zahlen, Maßen, Zeitangaben, Fakten. Wer ein reines his­torisches Sachbuch bevorzugt, wird bei der Lektüre nicht glücklich. Umgekehrt aber darf sich freuen, wer endlich einmal wissen möchte, wie es war, als Strawinsky und Debussy gemeinsam den „Sacre“ am Klavier gespielt haben oder wie sich Marcel Proust und Ethel Smyth am 4. Juni 1908 in Paris begegnet sind. Wer sich auf diese Art des Erzählens einlassen kann, einlassen möchte, wird beglückt sein und einen vielschichtigen, lebendigen Blick auf die Zeit bis 1918 bekommen. Wie schnell können 360 Textseiten vorbei sein. Es folgen rund 90 Seiten Anhang.

  • Volker Hagedorn: Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 448 S., Abb., € 32,00, ISBN 978-3-498-00201-5

 

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