Hauptbild
Längste Anreise, beglückendes Finale: Das Orquesta del Lyceum de La Habana.  Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert
Längste Anreise, beglückendes Finale: Das Orquesta del Lyceum de La Habana. Foto: MUTESOUVENIR | Kai Bienert
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Starke Frauen, Solisten und wieder richtige Orchester

Untertitel
Das Young Euro Classic fand vor und im Konzerthaus Berlin statt
Publikationsdatum
Body

Die Pandemie hat das Musikleben gebremst und durcheinandergewirbelt. So konnte das Berliner Jugendorchesterfestival Young Euro Classic, welches Impulse der Jeunesses Musicales fortführt, im Vorjahr nur in einer Kammermusikversion stattfinden. 2021 wollte man eigentlich zur Normalität zurückkehren. Da aber die Niederlande, Portugal, Russland und Spanien inzwischen als Hochinzidenzgebiete galten, durfte das niederländische Jugendorchester Jong Metropole ebensowenig anreisen wie das Jovem Orquestra Portuguesa, das Joven Orquesta Nacional de España und das Chelyabinsk Symphony Orchestra. Mit der nötigen Flexibilität fand die Festivalleitung kurzfristig im Ensemble Mini, dem c/o chamber orchestra und der Russisch-Deutschen MusikAkademie kleiner besetzte Alternativen.

Maskenzwang und Abstandsregelungen führten zu Einschränkungen und verringerten sozialen Kontakten. Die Grußworte der Paten hörte man nun auf der Festival-Webseite, wo sich auch instruktive Podcasts fanden. Als Antwort auf die begrenzte Platzkapazität im Großen Saal des Berliner Konzerthauses wurden fünf Programme bei freiem Eintritt live auf den Gendarmenmarkt übertragen. Zwei große Bildleinwände und ein ausgezeichnetes 3D-Soundsystem ermöglichten hier sogar gute Konzerterfahrungen.

Das schwedische O/Modernt New Generation Orchestra, das unter Leitung des Geigers Hugo Ticciati zum vierten Mal bei YEC gastierte, reiste in solistischer Besetzung an, wobei einige Mitwirkende kaum noch Jugendliche waren. Das originelle Programm bot mit bruchlosen Übergängen eine Hommage an starke Frauen wie Hildegard von Bingen, die mexikanische Komponistin Maria Grever oder die von Astor Piazzolla besungene Maria von Buenos Aires. Dabei bezauberte die wunderbare Mezzosopranistin Luciana Mancini, als Tochter von Chilenen in Schweden aufgewachsen, mit ihrer authentischen Wiedergabe argentinischer Gesänge das Publikum. Sie war auch Solistin bei den „Summer Dreams“ für Violine, Mezzosopran und Streichorchester des lettischen Komponisten Arturs Maskats.

Finanziert durch eine Privatbank aus Liechtenstein hat der Geiger Alexander Gilman 2013 die LTG Young Soloists gegründet. Mit ihnen brachte er nun das Concerto Grosso „Liechtenstein“ des Russo-Kanadiers Airat Ichmouratov zur Uraufführung. Dieser Kompositionsauftrag zum 100-jährigen Bestehen der Bank entsprach genau den Vorstellungen der fürstlichen Geldgeber. In den Ecksätzen pries es in feuriger Bewegung mit eingeblendetem Vogelgezwitscher die Schönheit der Bergwelt, während es im langsamen Mittelsatz reinen Wohlklang entfaltete. Dabei erhielten die Streichersolisten viel Gelegenheit zu kleinen Soli. Obwohl der Komponist Schostakowitsch, Prokofieff und Mahler als Vorbilder betrachtet, erinnerte sein wirkungsvolles Werk eher an Richard Strauss.

Wie Gilman, der sein Ensemble nach einem Bankhaus benannte, scheut auch Philip Glass nicht die Nähe zum Kommerz. Im Auftrag  der Tourismusmarketing-Organisation „Tirol Werbung“ schuf er im Jahr 2000 sein „Tirol Concerto“. Anders als bei Ichmouratov war hier kein musikalischer Bezug zum Titel zu erkennen. Einer choralartigen Einleitung folgte eine nicht enden wollende Reihe von Akkordbrechungen. Obwohl der Solist Martin James Bartlett ihnen immer wieder romantischen Ausdruck verleihen wollte, konnte er die Dürftigkeit dieses Klavierkonzerts nicht überdecken. Viel überzeugender gelangen Astor Piazzollas „Cuatro Estaciones Porteñas“ in einem Streicherarrangement von Leonid Desyatnikov, das mehrfach Zitate aus Vivaldis „Jahreszeiten“ einflocht. Zwei Sätze daraus waren schon bei O/Modernt erklungen. Während dort Ticciati die meisten Soli gespielt hatte, waren sie jetzt einer temperamentvollen Geigerin überlassen.

Die Russisch-Deutsche Musikakademie ist ein Austauschprojekt unter der künstlerischen Leitung von Valery Gergiev. Da ihr Orchester wegen der Pandemie nicht aus St. Petersburg ausreisen konnte, beteiligten sich bei diesem kurzfristig geplanten Programm in Deutschland lebende erstklassige Musiker, die der Akademie verbunden sind. Zu ihnen gehörten Rimma Benyumova, die neue Konzertmeisterin der Staatskapelle Berlin, und Tobias Feldmann, der 26-jährige Violinprofessor an der Musikhochschule Würzburg. Der aus russisch-deutscher Familie stammende Pianist Nikolaus Rexroth führte durch das Programm und war auch Solist bei „Game Over“ von Aleksander Khubeev, einem virtuellen Fußballspiel zweier Streichquartette als ebenso kurzes wie virtuoses experimentelles Theater à la Kagel. Auf dem Programm standen außerdem Tschaikowskys klangsattes Streichsextett „Souvenir de Florence“ und das Klavierkonzert Nr. 1 von Dmitri Schostakowitsch, ein bereits in die Postmoderne vorausblickender Geniestreich des jungen Komponisten, gespielt von dem vielfach preisgekrönten Pianisten Sergei Redkin.

Unter dem Motto „Klassik meets Jazz“ gab es bei YEC schon immer eine Jazzkomponente. Wurde sie zuletzt durch den Posaunisten Nils Landgren betreut, so übernahm jetzt die Berliner Pianistin und Komponistin Clara Haberkamp diese Aufgabe. Neben ihrem eigenen Trio bezog sie die am Jazz Institut der Udk Berlin um die Sängerin Fama M’Boup gebildete Jazz Vocal-Band „In June“  und ein Bläserquintett, das ebenfalls in Berlin beheimatete Pacific Quintet, mit ein. Das Haberland Trio, Texte von Walt Whitman und die Milhaud-Komposition „La Cheminée du Roi René“ waren die verbindenden Elemente des spannenden Programms. In Stücken von Clara Haberkamp und Fama M’Boup traten die drei Ensembles in verschiedenen Kombinationen zusammen, besonders überzeugend in „Orchestra“. In der abschließenden Collage trafen Whitman-Zeilen auf Milhaud-Zitate. Ein starker Abend, der neue Partnerschaften und Klangerfahrungen offenbarte. Auch die sympathische Moderation und die Lichtregie trugen zu dem positiven Gesamteindruck bei.

Neben den solistisch geprägten Abenden gab es auch Konzerte richtiger Jugendorchester aus Griechenland, Österreich, Rumänien und Deutschland. In der größtmöglichen Besetzung von 85 Musikern aus 26 Nationen verkörperte das Schleswig-Holstein Festival Orchestra schon fast wieder die Normalität. Da in diesem Jahr bei der Festival-Akademie Franz Schubert im Mittelpunkt stand, hörte man Luciano Berios „Rendering“. Skizzen aus Schuberts 10. Sinfonie sind hier durch nebelhafte Einfügungen zu einem halbstündigen Werk ergänzt, das keinen bleibenden Eindruck von Schuberts Ideen vermittelte. Umso zwingender wirkte danach Tschaikowskys 5. Symphonie, die unter dem lettischen Dirigenten Andris Poga tastend zart begann und in vielen Teilen leicht und durchsichtig musiziert wurde; im Andante ließ sich eine hervorragende Hornistin hören. Zu den Stammgästen von YEC gehört auch das Moritzburg Festival Orchestra, dessen Mitglieder im Alter von 16 bis 26 Jahren nach kaum einwöchiger Probenzeit im Konzerthaus auftraten. Zu diesem schnellen Zusammenwachsen trug die in Moritzburg gepflegte Kombination von Orchesterarbeit mit Kammermusik bei. So kam es unter Leitung von Josep Caballé Domenech zu sehr respektablen Interpretationen der C-Dur-Sinfonie von Robert Schumann und von Beet­hovens Tripelkonzert. Jan Vogler, der künstlerische Leiter der Festival Akademie, war hier der herausragende Solist neben Kevin Zhu (Violine) und Sergio Tiempo (Klavier).

Von allen Festival-Orchestern hatte das Orquesta del Lyceum de La Habana die längste Reise hinter sich. Nach vollständiger Impfung und einer Quarantäne hatten die 45 Musiker einreisen dürfen. Ihr Programm „Mozart y Mambo“ basiert auf einer Tournee, welche Sarah Willis schon im Januar 2020 mit den jungen Musikern unternommen hatte. Drei Jahre zuvor hatte die Hornistin der Berliner Philharmoniker das Orchester auf einer Kubareise entdeckt. Jetzt erfüllte sich für sie ein Traum, als sie mit ihm in Berlin gas­tieren konnte. Bei Mozarts Ouvertüre zur „Entführung“ zeigten die jungen Musiker straffes Tempo und blitzende Läufe und waren beim Es-Dur-Hornkonzert KV 447 gute Partner für Sarah Willis. Diese musikalische Qualität verdankt sich nicht zuletzt dem Dirigenten José Antonio Méndez Padrón, der das Orchester seit 2009 leitet. Aber die eigentliche Stärke der jungen Kubaner, ihr Musizieren mit dem ganzen Körper, zeigte sich erst beim „Rondo alla Mambo“, einer raffinierten Mozart-Bearbeitung. Angefeuert durch Sarah Willis erhoben sich schließlich alle Zuhörer von ihren Sitzen und bewegten sich zu Salsa- und Mamborhythmen. Ein beglückendes Finale.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!